Nur Engel fliegen hoeher
sich ein Telegrammformular. Kurz überlegt er, dann schreibt er entschlossen Julias Privatadresse in West-Berlin und darunter den kurzen Text: »Freitag ab 20 Uhr beim Pfarrer.«
Er ruft bei dem Pastor an. Der ist einverstanden, dass Jonas dort am Freitagabend einen Anruf entgegennimmt. Dann gibt Jonas das Telegramm auf.
»Wollen Sie keinen Gruß und keinen Namen drunterschreiben?«, fragt die Postangestellte höflich.
»Nein, nein, das Geld will ich sparen.«
»Aber hier oben links, da müssen Sie noch Ihre komplette Anschrift eintragen.«
»Wozu das? Wird das mittelegrafiert?«
»Nein, das wird nicht mit durchgegeben. Das ist für den Fall, dass der Empfänger nicht erreichbar ist, dann kommt das Telegramm zu Ihnen zurück.«
Jonas überlegt kurz, ob das schaden könnte. Aber er sagt sich, dass kein Dritter aus dem Text etwas schlussfolgern kann. Und er muss den Vordruck ausfüllen, damit er das Telegramm abschicken darf. Am Ende bezahlt er 3 Mark 15 und verlässt das Postgebäude bester Laune.
Am Freitagabend ist Jonas schon eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit bei seinem Pastor und reicht ihm zwei Flaschen Rosenthaler Kadarker, einen bulgarischen Rotwein, den es in der DDR nur noch als Bückware unterm Ladentisch gibt. Sie gehen in das großzügige Arbeitszimmer des Pfarrers und setzen sich an ein kleines Tischchen. Riesige Bücherregale vom Fußboden bis zur Decke dominieren den Raum. Gerade als der Pfarrer Tee eingießt, schrillt das Telefon. Jonas springt auf, aber gerade noch rechtzeitig fällt ihm ein, dass er hier zu Gast ist.
Der Pfarrer hat scheinbar einen ehemaligen Studienfreund am Apparat und redet und redet und redet. Genervt sieht Jonas zur Uhr. Es ist schon nach 20 Uhr. Wenn Julia jetzt anruft? Er versucht, ruhig zu bleiben. Endlich legt der Pfarrer auf. Längst hat er registriert, dass Jonas wie auf Kohlen sitzt.
Er entkorkt eine Flasche Rotwein und fragt Jonas, ob er ernsthafte Probleme hätte und er ihm irgendwie helfen könne. Jonas verneint, sagt nur, dass er einen dringenden Anruf aus West-Berlin erwarte. Der Pastor rät ihm, genau zu überlegen, was er sage, denn er wisse nicht, ob seine Telefonanlage in Ordnung sei.
Sie reden über Belanglosigkeiten, dann erkundigt sich der Pfarrer nach Jonas' Familie. Er will wissen, ob Maria immer noch in der Schule benachteiligt wird, weil sie nicht zu den Pionieren geht, und ob Ellen deswegen eine Eingabe an das Ministerium für Volksbildung geschrieben hat. Kurz nach 21 Uhr haben sie die erste Weinflasche geleert und der Aschenbecher ist randvoll. Jonas guckt abwechselnd auf die Uhr und auf das Telefon. Doch das Telefon schweigt.
Der Pastor leert den Aschenbecher und entkorkt die zweite Flasche.
«Jonas, dich bedrückt etwas. Wenn es dir hilft, kannst du es mir gern anvertrauen.«
Jonas starrt den Pastor an. Er ist etwa zehn Jahre älter, beide kennen sich aus der Evangelischen Studentengemeinde. Dann erzählt er die ganze Geschichte mit Julia.
»Ich weiß, was ich tue, ist verantwortungslos. Aber ich liebe Julia. Manchmal verfluche ich den Tag, an dem ich sie kennengelernt habe. Ich kann nur noch an sie denken, keinen klaren Gedanken mehr fassen. Gibt es wirklich so etwas wie die eine große Liebe?«
»Anscheinend ja.«
»Aber ich trage doch Verantwortung für meine Familie ... Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen und fühle mich gar nicht gut dabei.«
»Ich kann mir vorstellen, wie zerrissen du innerlich bist.«
»Was soll ich tun? Die Familie zu verlassen wäre grausam und egoistisch. Aber ich weiß nicht, ob es mir gelingt, die Sache mit Julia in meinem Herzen zu beenden. Ich habe noch nie ein so tiefes Gefühl gespürt. Vielleicht würde ich mir ein Leben lang vorwerfen, dass ich die große Liebe meines Lebens habe vorübergehen lassen, diese einmalige Chance nicht genutzt habe.«
»Wie du dich auch entscheidest, Jonas, du wirst immer einen Gewinn haben - und einen Verlust, der dich seelisch belasten wird.«
»Wie kann man eine große Liebe beenden, ohne dass man ihr ewig nachtrauert?«
»Manchem gelingt es mit dem Kopf. Manchem auf anderem Wege. Manchem gelingt es nie.«
»Wie kann man es schaffen, wenn nicht mit dem Kopf?«
»Es gibt mindestens zwei weitere Möglichkeiten. Die eine wäre gegeben, wenn deine große Liebe dich enttäuscht. Dich belügt, hintergeht oder dir das Leben zur Hölle macht. Dann stirbt die Liebe in dir.«
»Und die andere?«
»Indem du deine Liebe auslebst.«
»Heißt das, dass ich
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