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Nur Engel fliegen hoeher

Nur Engel fliegen hoeher

Titel: Nur Engel fliegen hoeher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wim Westfield
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protzt über drei Grundstücke hinweg eine mehrere Meter hohe Plakatwand auf einem stabilen Stahlrohrgestell. Über der Werbefläche steht in halbmeterhohen fetten Buchstaben »Straße der Besten«. Auf der Wand kleben plakatgroße Schwarz-Weiß-Fotos von Arbeitern, Angestellten und politischen Funktionären der Volkswerft Stralsund.
    Julia lässt ihre Minolta klicken und kommentiert: »So schlecht finde ich das gar nicht, dass man diejenigen ehrt, die den Wohlstand schaffen.«
    »Ich fände es besser, wenn man die Baulücken schließen würde, damit jeder Werftarbeiter eine akzeptable Wohnung erhält.« Und nach einer Pause: »Außerdem hasse ich es, an jeder Ecke einen Schlag mit dem ideologischen Holzhammer auf den Kopf zu bekommen
    »Jonas, warum schreibst du das nicht in deiner Zeitung?«
    »Weil man uns allen - vom Volontär bis zum Chefredakteur - die Eier abgeschnitten hat. Keiner hat mehr die Potenz, etwas zu sagen oder zu bewegen. Wir sind alle winselnde Eunuchen, die gebeugten Hauptes die Befehle der Obrigkeit entgegennehmen.«
    »Aber es gibt doch nicht nur die Alten, sondern auch junge, kritische Geister wie dich.«
    »Als ich anfing, bei der Zeitung zu arbeiten, habe ich auch so gedacht. Aber inzwischen haben sie auch mir einen kleinen Mann ins Ohr implantiert, der mir einflüstert, was ich zu schreiben habe. Das hat überhaupt nichts mehr mit Journalismus zu tun. Es ist tägliches Überlebenstraining.«
    Sie spazieren durch die schmalen Gassen der Stralsunder Altstadt zurück zum Hafen. Julia bleibt vor einem alten Haus stehen, an das ein blau-weißes Emailleschild mit der Aufschrift »Denkmal« geschraubt ist. Das ehemals schöne Fachwerkhaus ist zur Ruine verkommen. In den rechteckigen Löchern der Fassade gibt es keine Fenster mehr. Die alte Holztür hängt eingetreten und schräg in den Angeln. Der Blick ins dunkle Innere offenbart Müll und Bauschutt. Das Dach des Hauses und die Decke des Obergeschosses sind durchgebrochen und es sieht nicht danach als, als ob hier in nächster Zeit etwas repariert werden würde.
    »Warum bringt das niemand wieder in Ordnung?«, fragt Julia und fotografiert. »Ich habe den Eindruck, dass die ganze Stadt demnächst in sich zusammenstürzt.«
    »Weil dieses Haus, wie viele andere auch, dem Staat gehört oder vom Staat verwaltet wird.«
    »Und warum bringt es dann der Staat nicht in Ordnung?«
    »Weil der lieber Brötchen für fünf Pfennige verkauft.«
    »Jonas, ich frage mich, ob ihr überhaupt noch wahrnehmt, wie dieses Land mit seinen schönen Bauten in sich verfällt.«
    »Das Volk denkt nicht mehr darüber nach. Es hat sich an dreckige, graue Fassaden gewöhnt. Und die es noch sehen und es vielleicht rausschreien wollen, die trauen sich nicht mehr. Die Stasi ist überall. Und die Journalisten, ich sagte es schon, hat man kastriert.«
    »Ich hoffe, dich haben sie verschont.« Julia macht ein Foto von Jonas, dann küsst sie ihn. »Lass uns auf die Insel fahren!«
    Sie fahren durch die Altstadt in Richtung Rügendamm. Julia fotografiert.
    »Ist dir schon aufgefallen, dass dein Land total unerotisch ist?«
    »Wie meinst du das?«
    Jonas hält an einem geschlossenen Bahnübergang und schaltet den Motor aus.
    »Nicht nur, dass schöne Häuser einfallen - es ist alles so trist, grau und hässlich. Mögen die Leute hier keine Farbe? Haben sie keinen Sinn für Ästhetik?«
    Jonas schweigt.
    »Das meine ich mit unerotisch. Kann ein ganzes Volk den Glauben an Schönheit verlieren?«
    »Wenn die Tristesse lange genug anhält, sieht man sie nicht mehr. Ich habe nie etwas anderes gesehen.«
    »Jonas - das färbt auf die Seele ab. Du darfst nie so grau werden wie dieses Land. Versprich es mir.«
    »Als du plötzlich verschwunden warst, damals in Greifswald, da hatte ich ein merkwürdiges Gefühl, das ich nur schwer beschreiben kann. Ein Engel von einem anderen Stern hatte mich mit seinem Flügel gestreift. Ganz kurz. Aber es blieb eine kleine Verletzung. Keine sichtbare Wunde. Nur in der Seele. Vielleicht hast du mich mit einem Virus infiziert. Von einem anderen Stern, wo es andere Farben gibt als Grau und Grau. Doch dann spürte ich, dass du mir davongeflogen bist. Nur ein Nebel blieb. Und alles war noch grauer als zuvor.«
    Die Schranken am Bahnübergang öffnen sich. Sie fahren an einer großen Werft entlang und auf den Rügendamm. Auf der Brücke stehen einige Angler. Die tiefe Wintersonne vergoldet den Blick über den Strelasund zur Insel.
    »Sag mal, sind das Falken

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