Nur Engel fliegen hoeher
sagt Julia freundlich zu der Kellnerin.
»Meinen Se Kartoffelsalat?«, fragt die.
»Nein, Salatblätter, Tomate, Zwiebel, Dressing.«
»So was ham wa nich. Kartoffelsalat hätt ma awer ooch nich jehabt. Ham Se noch 'n Wunsch?«
»Dann bitte etwas Obst.«
Jonas guckt grinsend zu Boden.
»Obst ham wa ooch nich.«
Julia nimmt die Karte zur Hand und sagt: »Dann nehme ich einen Kaffee und ein Brötchen.«
»Mit Soljanka, Boulette oder Bockwurst?«
»Nein, bitte nur ein Brötchen - ohne Soljanka und ohne Boulette und ohne Bockwurst.«
»Datjeht nich.«
Jonas fürchtet, dass Julia explodieren könnte, und mischt sich ein. »Bitte bringen Sie uns zweimal Kaffee und zweimal Boulette mit Brötchen.«
Julia will protestieren, doch Jonas fasst ihre Hand. Sie schweigt. Beide sehen sich einen Moment lang an. Dann lachen sie laut.
»Gut über die Grenze gekommen?«
»Ohne Probleme. Nur Marc hat etwas Stress gemacht.«
»Marc?«
»Marc Davis, mein Lebensgefährte. Er sagt, er macht sich große Sorgen, wenn ich in ein Land fahre, wo er mich nicht telefonisch erreichen kann.« Und weiter im Flüsterton: »Er hält sich im Osten keine Sekunde länger auf als notwendig. Nach Dienstschluss fährt er von unserer Botschaft in Ost-Berlin immer straight zum Checkpoint Charlie.«
Julia reicht Jonas ein Fünferpaket Tonbandkassetten mit dem Aufdruck »Golden Oldies«, einem Zusammenschnitt der besten Hits von den Rolling Stones über Jethro Tüll bis Pink Floyd.
»Wahnsinn!«, entfährt es Jonas.
Und sie schiebt ihm eine Zeitschrift zu. Er erkennt das Cover des ostdeutschen Modemagazins »Sybille« und wundert sich. Als er die Zeitschrift aufschlägt, fallen ihm vor Begeisterung fast die Augen aus dem Gesicht. Unter dem falschen Umschlag steckt der aktuelle »Spiegel«.
»Du bist ja mutig!«
Julia klappt das Magazin zu. »Nicht dass du glaubst, dass du an diesem Wochenende darin lesen darfst. Das machst du nächste Woche. Am Wochenende bist du nur für mich da.« Sie legt ihren Arm um ihn und küsst ihn.
In diesem Moment serviert die Kellnerin die Bestellung. Julia beißt hungrig in das Brötchen, legt es aber sofort wieder auf den Teller und sagt: »Mein Gott, das ist ja von gestern. Können Sie mir bitte ein Brötchen von heute bringen?«
Die Kellnerin hebt die Schultern und sagt ohne jede Gemütsregung: »Wenn Sie ein Brötchen von heute wollen, müssen Sie morgen wiederkommen.«
Julia muss so laut lachen, dass sich die anderen Gäste mit finsteren Blicken nach ihr umsehen. Sie nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse, verzieht angewidert das Gesicht und sagt: »Lass uns besser gehen.«
Jonas stürzt seinen Kaffee hinunter, wickelt ein Brötchen samt Boulette in eine Serviette und lässt es in seinem Parka verschwinden. Das andere reißt er mit der Hand auf, packt die Boulette dazwischen und isst es, während sie zum Auto gehen.
»Wollen wir zu einem Bäcker fahren und für dich etwas Frisches kaufen?«, fragt er, als er den Wagen startet.
»Alright, lass uns dort vernünftig frühstücken.«
»Frühstücken beim Bäcker? Das kenne ich nur von Budapest. Bei uns gibt's so was nicht. Ich schlage vor, wir kaufen etwas zu essen ein und nehmen es mit auf die Insel.«
»Ich bin mit allem einverstanden, Sweetheart, Hauptsache, wir sind zusammen.« Sie umfasst mit der Linken seinen Nacken und fährt ihm durch die Haare. Jonas bewegt seinen Kopf wie eine Katze, die gestreichelt wird. Er umfährt die Altstadt mit der ziegelroten Stadtmauer und parkt das Auto vis-a-vis des Stralsunder Hafens. Nach einem kurzen Spazierweg sind sie in der Altstadt. Julia macht Fotos von den hanseatischen Backsteinkirchen. In einem unscheinbaren Bäckerladen kauft Jonas zehn ofenwarme, duftende Brötchen.
»Macht fünfzig Pfennig«, sagt die Verkäuferin.
Jonas reicht Julia die Tüte und bezahlt. Julia nimmt ein Brötchen heraus und beißt hinein.
»Wunderbar! Aber haben Sie sich nicht verrechnet?«, fragt sie.
»Ich habe Ihnen nicht zu viel berechnet«, entrüstet sich die Verkäuferin. »Sie können nachzählen, es sind zehn Brötchen.«
Auf der Straße sagt Julia kauend: »Kein Bäcker auf der Welt verkauft seine Brötchen so billig.«
»In diesem Land macht nicht der Bäcker die Preise, sondern der Staat.«
In einer HO-Kaufhalle nebenan erstehen sie zwei Flachen Kakaomilch und zwei Kilo Äpfel. Julia drückt Jonas den Einkauf in die Hand, damit sie weiter fotografieren kann. In einer Häuserzeile klafft eine große Lücke. Dort
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