Nur Engel fliegen hoeher
keine andere Wahl habe, als zu ihr zu gehen?«
»Diese Entscheidung kann dir niemand abnehmen.«
»Aber wenn ich es nicht tue, wird die unerfüllte Liebe immer an meiner Seele nagen.«
»Die Liebe kann ein großes Glück sein. Aber die Liebe kann einen Menschen auch zerstören.«
Kurz nach 23 Uhr schrillt das Telefon. Der Pastor nickt Jonas zu. »Nimm ab. Das ist sie.«
Jonas reißt den Hörer von der Gabel.
»Ich bin es, Jonas.«
»Oh, wie schön, deine Stimme zu hören.«
»Wann treffen wir uns?«
»Nächstes Wochenende? Auf deiner Insel?«
»Ich kann es kaum erwarten!«
»Hör genau zu: Der Zug aus Berlin kommt Freitag um 10 Uhr 26 in Stralsund an. Kannst du mich abholen?«
»Nichts täte ich lieber.«
»Abgemacht. Lass uns das Telefonat beenden.«
»Was ist, wenn du an der Grenze aufgehalten wirst oder den Zug verpasst?«
»Dann warte auf dem Bahnhof. Ich komme auf jeden Fall. Ich finde dich.«
»Ich liebe dich und werde warten.«
»I love you. Bye.«
Julia hat aufgelegt. Jonas nimmt den letzten Schluck aus seinem Glas. Der Pastor legt die Hand auf seine Schulter.
»Du lässt dein Auto heute stehen. Meine Frau wird dich nach Hause fahren.« Und nach einer kurzen Pause: »Ich werde für dich beten.«
»Ich glaube nicht mehr an deinen Gott. Zumindest fällt es mir sehr schwer.«
»Unter der Last deiner Prüfung kann ich deine Zweifel verstehen.«
»Ich schäme mich dafür, was ich meiner Familie antue. Aber ich liebe Julia.«
»Ich werde beten, dass du die richtige Entscheidung triffst.«
Kapitel 10
Am letzten Freitag im Januar verabschiedet sich Jonas früh am Morgen von seiner Tochter. Maria schläft noch. Er haucht ihr vorsichtig einen Kuss auf die Wange.
Ellen bringt ihn zum Auto.
»Und du musst das ganze Wochenende auf Rügen fotografieren? Im Winter?«
»Ja. Ich konnte den Job leider nicht verschieben.«
»Pass auf dich auf, Jonas.« Ellen zögert. »Ich liebe dich«, sagt sie und küsst ihn.
»Ich dich auch.«
Jonas fährt los in Richtung Stralsund. Ihn plagt sein schlechtes Gewissen; er hasst es, zu lügen. Er schaltet das Radio ein. Sie spielen »Wand an Wand«, den neuesten Hit von City. Julia ... Er kann die Gedanken an sie nicht wegschieben. Ein ganzes Wochenende mit ihr liegt vor ihm!
Kurz nach zehn parkt Jonas seinen Lada vor dem Hauptbahnhof in Stralsund. Es ist ein kalter, klarer Wintertag. Nur in den Grünanlagen liegen noch Reste Schnee, alle Wege sind frei. Jonas geht in die Bahnhofshalle und sieht auf den ausgehängten Fahrplan. Der D-Zug aus Berlin-Ostbahnhof soll um 10 Uhr 26 ankommen.
In der schmuddeligen Halle ist es kalt und zugig. Er steht vor dem Blumenladen und schaut, ob er etwas zur Begrüßung kaufen kann. Es gibt lediglich eine Reihe Blumentöpfe mit Alpenveilchen, sonst nichts. Im Schaufenster hängt ein vergilbtes, handgemaltes Pappschild: »Schnittblumen ausverkauft!« Das Schild ist voller Fliegendreck und deutet darauf hin, dass es schon Jahre her sein könnte, als es hier das letzte Mal Schnittblumen gab.
Nebenan befindet sich ein Spätverkauf, wo auch an den Wochenenden und bis spät in die Nacht Dinge des täglichen Bedarfs zu Einheitspreisen verkauft werden. Jonas kauft zwei Flaschen Rotkäppchen-Sekt, zwei Tafeln Vollmilchschokolade, Brot, Käse und ein Kilo Kuba-Apfelsinen und bringt alles in sein Auto.
Zurück im Bahnhof, läuft schon der D-Zug aus Berlin ein. Sekunden später sieht er Julia aussteigen. Sie trägt eine schwarze, gesteppte hüftlange Jacke, weinrote lange Stiefel über einer engen Jeans, dazu eine Umhängetausche im selben Weinrot und einen langen roten Schal. Darüber wallt ihre lange blonde Lockenpracht. Verglichen mit den anderen Menschen auf dem tristen Bahnhof wirkt sie auffallend elegant. Es ist augenfällig, dass sie nicht aus diesem Land kommt.
»Mein Engel...«, flüstert Jonas. Sie liegen sich in den Armen und küssen sich.
»Dein Engel hatte einen weiten Weg bis zur Erde und möchte jetzt gern frühstücken gehen.«
»Wir können es in der MITROPA versuchen.«
»Was ist das?«
»Die Gaststätte im Bahnhof.«
Sie suchen sich in einer Ecke an einem der weißen Tische ohne Tischdecke einen Platz. Darauf stehen ein Aschenbecher und eine Plastikblume, die in ein Stück Styropor gesteckt ist. Die mit Schreibmaschine geschriebene kleine Speisekarte bietet drei Gerichte zur Auswahl: Soljanka mit Brötchen, Boulette mit Brötchen und Bockwurst mit Brötchen.
»Ich hätte gern einen Kaffee und einen Salat«,
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