Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nur Engel fliegen hoeher

Nur Engel fliegen hoeher

Titel: Nur Engel fliegen hoeher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wim Westfield
Vom Netzwerk:
schreckt auf. Draußen auf dem Alexanderplatz flimmert die Coca-Cola-Werbung. Es ist später Nachmittag.
    »Junge Frau, Sie müssen jetzt gehen«, sagt Frau Tulpenmüller.
    »Ja... Wohin?«
    »Haben Sie geträumt?«
    »Nein, nein. Entschuldigen Sie. Ich war so tief da drin. In der Geschichte. In den Akten.«
    Christin sieht sich um und bemerkt, dass nur noch sie und Frau Tulpenmüller im Lesesaal der Behörde sitzen. Die anderen Besucher sind schon gegangen.
    »Wir schließen pünktlich um 18 Uhr. Sie müssen jetzt bitte gehen junge Frau.«
    Christin zieht ihr Handy aus der Hosentasche und sieht auf die Uhr. Dabei entdeckt sie, dass sie mehrere SMS erhalten hat, und klickt sie an.
    »Bitte lesen Sie Ihre Nachrichten, wenn Sie draußen sind. Dafür ist keine Zeit mehr. Außerdem ist die Benutzung von Handys im Lesesaal der BStU nicht erlaubt.«
    Christin klappt ihr Handy wieder zu und steckt es zurück in die Hosentasche. »Darf ich mir den einen Ordner, den ich gerade durcharbeite, ausleihen? Ich würde ihn gern heute Abend zu Ende lesen. Morgen früh bringe ich die Akte garantiert zurück. Versprochen.«
    Frau Tulpenmüller bleibt vor Schreck der Mund offen stehen.
    »Das ist unmöglich! Sie sind hier nicht in einer Leihbibliothek, sondern in der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen. Allein eine solche Frage ist absurd.«
    »Oh, Entschuldigung. Daran hatte ich im Moment nicht mehr gedacht.«
    Christin notiert sich die Registriernummer des Ordners, bis zu dem sie sich durchgearbeitet hat, und schreibt sich die Seitenzahl auf, bei der sie aufgehört hat zu lesen. Sie steht auf und zieht ihr knappes Top mit beiden Händen nach unten, als schäme sie sich ihrer unangemessenen Kleidung.
    »Frau Tulpenmüller, es ist mir peinlich, aber ich kenne mich hier immer noch nicht aus. Darf diese Akte so aufgeschlagen hier liegen bleiben, bis ich morgen früh wiederkomme?«
    »Christin, Sie sind jetzt schon die halbe Woche lang jeden Tag hier gewesen. Es geht mich ja nichts an, aber müssen Sie für Ihre Arbeit wirklich die ganze Akte kennen?«
    »Ja. Ja, unbedingt. Ich will die komplette Akte zu diesem Fall lesen. Alle Ordner.«
    »Aber junge Frau, Sie haben erst ein Drittel geschafft. Wenn Sie alles lesen wollen, werden Sie noch Tage, vielleicht sogar Wochen hier verbringen müssen.«
    »Ich weiß.«
    »Und das machen Sie alles für den Geschichtsunterricht?«
    »Ja, für den Leistungskurs.«
    »Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen blass aus.«
    »Sind alle Akten so erschütternd?«
    »Es gibt Hunderttausende Schicksale, die wir heute kaum mehr begreifen können.«
    »Wie halten Sie das aus, ich meine, den täglichen Umgang mit diesen Akten?«
    »Man darf nicht jedes Schicksal zu dicht an sich heranlassen. Aber es hilft, die eigene Vergangenheit zu verstehen - auch wenn das manchmal bitter ist.«
    »Stammen Sie aus der ehemaligen DDR?«
    »Ja, aus Ost-Berlin oder der Hauptstadt der DDR, wie wir früher sagen mussten.«
    »Hielten Sie es damals, ich meine, vor dem Mauerfall, für möglich, dass die Stasi bei einigen Menschen jede Handlung, jedes gesprochene oder geschriebene Wort zu Akten macht?«
    »Niemand von uns konnte sich vorstellen, was in den Stasi-Gebäuden wirklich passierte. Laut offizieller Darstellung sollte uns das MfS vor westlichen Agenten schützen. Erst nach der Wende kam die Wahrheit ans Licht: Der Feind war nicht der Kapitalismus, sondern das eigene Volk.«
    »Aber in dieser Akte hier handelt es sich doch eigentlich nur um eine Liebesgeschichte.«
    »Die Stasi schreckte nicht davor zurück, die Liebe für ihre Zwecke zu missbrauchen.«
    »Hat diese Akte, diese 21 Bände zu dem einen Fall, schon jemand vor mir gelesen?«
    »Nein. Soweit ich das einschätzen kann, sind Sie der erste Besucher, der die Akten in den Händen hält.«
    »Woher wollen Sie das so genau wissen?«
    »In der Registratur wird vermerkt, wer die Akten einsieht.«
    »Sind Sie da ganz sicher?«
    »Nicht hundertprozentig sicher, aber sehr sicher. Die Abläufe hier sind schon perfekte deutsche Bürokratie. Als einziger Mensch vor Ihnen habe ich die gesamte Akte gelesen, alle 21 Bände. Das musste ich tun, bevor ich Ihnen einen Besuchertermin geben konnte. Weil Sie die Klarnamen nicht erfahren dürfen, bin ich die Akte Seite für Seite durchgegangen und habe die Namen der Betroffenen geschwärzt, ausgenommen die Namen der Täter, also der Stasi-Mitarbeiter, die dürfen Sie lesen. Somit kenne ich die Akte von der ersten bis zur letzten

Weitere Kostenlose Bücher