Nur Engel fliegen hoeher
Reiseantrag stellen.«
»Ich habe dir gesagt, dass das nur funktioniert, wenn du mit denen kooperierst, die dir den Pass ausstellen sollen.«
»Steck deinen Wisch wieder ein. Ich habe Alkohol getrunken und möchte heute nichts schreiben oder unterschreiben, was ich vielleicht morgen bereue.«
»Keine Sorge, Ellen, ich bin bei dir und passe auf dich auf.« Er gießt noch einmal beide Becher voll, stößt mit ihr an und legt seinen Arm um ihre Schulter.
»Ich bin schon total besoffen. Rainer, du musst jetzt nach Hause fahren.«
»Lass uns vorher das Papier noch aufsetzen. Ich verspreche dir: Ich kümmere mich um deine Dänemark-Reise.«
»Warum muss man in diesem kranken Land immer einen Antrag stellen, während der Rest der Welt frei reisen darf?! Mir ist kotzübel.«
Sie rennt zur Toilette und spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht. Die Übelkeit bleibt. Sie muss sich übergeben.
Am nächsten Tag wacht Ellen erst kurz vor Mittag auf. Sie hat furchtbare Kopfschmerzen. Erschrocken stellt sie fest, dass sie nackt im Bett liegt. Sie versucht den vergangenen Abend zu rekonstruieren. Zu ihrer Erleichterung liegt dieser Rainer nicht neben ihr. Aber das Bett ist zerwühlt. Hat er hier geschlafen? Wann ist der Kerl gegangen? Sie zieht ihren Bademantel über, geht in Küche und Wohnzimmer und sucht nach Spuren des gestrigen Abends. Die beiden Becher stehen ausgespült und umgestülpt neben der Spüle. Sein Madzda ist weg. Die leeren Bordeaux-Flaschen sind nicht mehr da. Das Blatt Papier, auf das sie schreiben sollte, ist ebenso verschwunden wie seine Visitenkarte.
Kapitel 16
Die Forsythien in den Gärten der mecklenburgischen Bauernhäuser blühen leuchtend gelb. An der Küste hält der Frühling Einzug. Jonas fingert einen Briefumschlag aus dem Briefkasten an der Haustür. Er trägt keinen Absender. Doch an der Handschrift erkennt er sofort, dass er von Fred aus Berlin stammt. Jonas sieht sich die Rückseite des Umschlags genau an. Der Klebefalz scheint etwas gewellt zu sein. Er ist sich nicht sicher, ob der Brief geöffnet wurde. Vorsichtig reißt er den Falz auf, entdeckt dabei aber keine Spuren eines fremden Klebstoffes.
In dem Kuvert steckt ein weiterer Umschlag, mit altdeutscher Schrift an Fred adressiert und in Ost-Berlin eingesteckt. Die Schrift könnte die der Rentnerin Anna Brügge sein. Der Umschlag mit dem selbst klebenden Falz stammt aber aus dem Westen. Er sieht unangetastet aus. Jonas reißt ihn auf und findet darin erwartungsgemäß einen Brief von Julia. Er ist auf ein kariertes Blatt eines Schreibblocks geschrieben, wie ihn Studenten häufig verwenden. Das Papier ist zweimal gefaltet und ringsum mit West-Klebeband verklebt. Julia geht ganz auf Nummer sicher, denkt er. Würde jemand versuchen, das Klebeband abzureißen, würde er zwangsweise das karierte Blatt verletzten und Spuren hinterlassen.
Jonas hält das gefaltete Blatt gegen das Licht und erkennt nur vage Spuren ihrer Handschrift. Würde jemand den Brief so lesen wollen, überlegt er, müsste er ihn mit einer starken Lichtquelle durchleuchten und mit einer ausgeklügelten Technik auf jede der vier Ebenen separat scharf stellen, die einzelnen Teile ablichten und dann wieder zusammenfügen. Sicher könnte so etwas technisch machbar sein. Aber er zweifelt daran, dass die Stasi über derartige Geräte verfügt.
Wo lebe ich eigentlich, fragt sich Jonas, wenn ein harmloser Brief von Berlin nach Rostock wie eine geheime Depesche mehrfach umgeleitet werden muss.
Mit einem scharfen Messer trennt er das Klebeband auf. Es ist eindeutig ihre Handschrift. Wie immer vermeidet sie jeden Namen bei Anrede oder Gruß.
Mein Prinz,
man hat mich an der Grenze abgewiesen. Trotz Visum! Man sag
te mir: »Diese Entscheidung bedarf keiner Begründung.«
Als ich Dich vom Bahnsteig aus hinter der grauen Häuserfassade stehen sah, habe ich nur für Dich gelächelt. Mir war zum Weinen
zumute.
Du hast richtig verstanden: Ich bekomme ein Kind. Es ist ganz eindeutig von Dir. Freust du Dich???
Ich musste Dich so plötzlich verlassen. Ich stand die ganze Zeit
im Blickfeld eines Wachturms. Als Deine Rose flog - vielen Dank nachträglich! -, hatte ein Grenzer sein Fernglas auf das Haus im
Osten gerichtet, in dem Du am Fenster standst. Ich bin schnell verschwunden, um Dich nicht zu verraten. So kann das nicht weitergehen!
Ich weiß, es ist für Dich schwierig: Aber könntest Du versuchen,
nach Prag zu kommen? Dein Engel
Für den kommenden Dienstag, den
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