Nur für eine Stunde?
besorgen. Sie legte ihre Papiere in einen Ordner, schwenkte dann zum Computer herum und rief eine Rechnungsdatei auf. Ein leises Klopfen unterbrach sie, und sie drehte sich wieder zurück.
Im Türrahmen stand Doug Horowitz. “Haben Sie eine Minute Zeit, Martha?”
Für Doug hatte sie immer Zeit. Er war der Einzige in der Firmenleitung, der über betriebswirtschaftliches Fachwissen verfügte. Zwar neigte er dazu, sich über jede Kleinigkeit aufzuregen, aber er bildete ein gutes Gegengewicht zu Blake, der die Dinge etwas zu lässig nahm.
“Was gibt’s, Doug?”, fragte sie mit einem Lächeln.
Er trat in ihr Büro, und seinem Ausdruck nach schien er sich etwas unbehaglich zu fühlen. Marthas Puls beschleunigte sich. Hatte Doug ihre Nervosität bemerkt, als sie Blake begrüßte? Hatte er gesehen, dass sie rot geworden war? War er vielleicht gekommen, um sie auf ihr Verhalten anzusprechen? Wenn er das täte, würde sie unter den Schreibtisch kriechen und nie wieder hervorkommen.
“Blake möchte, dass Sie nach Chicago fliegen.”
“Nach Chicago?”
“Zusammen mit ihm und mir. Unser Vertrag mit Good Earth steht plötzlich infrage, und wir müssen zu dringenden Rettungsarbeiten hin. Blake meint, Sie könnten etwas beitragen.”
Martha öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dass ein bedeutender Absatzmarkt im Mittleren Westen der Firma verloren gehen könnte, war keine gute Nachricht. Aber was konnte sie zur Rettung des Deals beitragen?
“Wieso denn das?”, fragte sie.
“Was weiß ich? Er möchte Sie dabeihaben. Vielleicht denkt er, Sie können die Leute von Mutter Erde mit Ihrem Charme einwickeln.”
Martha lachte. “Charme ist nicht gerade meine Stärke.”
“Oder er hofft, dass Sie sie mit Ihrer Klugheit beeindrucken. Sie wissen ja, wie er ist. Wenn er eine Idee hat, setzt er sie sofort um. Er hat ja schon einige Male bewiesen, dass es richtig war, seinem Instinkt zu folgen. Und momentan rät ihm sein Instinkt, dass Sie mit uns nach Chicago kommen sollen.”
Martha überlegte. “Wann soll denn diese Rettungsaktion stattfinden?”
“Das steht noch nicht fest. Wir müssen zuerst mal in Chicago vorfühlen und die Leute sanft bearbeiten, sich mit uns zu treffen. Sobald ich Näheres weiß, gebe ich Ihnen Bescheid.”
“Ich müsste nämlich Vorkehrungen für meinen Hund treffen.”
“Ihren Hund können Sie für ein paar Tage in einer Hundepension unterbringen. Die Kosten übernimmt die Firma.”
Martha war von dem Gedanken, Lucy fortzugeben, nicht begeistert, aber der Gedanke, auf Geschäftsreise zu gehen, gefiel ihr. In der riesigen Firma in Boston war sie eine von vielen in der Buchhaltung gewesen, und Businesstrips zu Kunden waren dem Chef der Abteilung vorbehalten. Bei Blake’s Fruit Brews war sie ganz allein die Buchhaltung und folglich auch Abteilungsleiterin.
Trotzdem hatte sie Bedenken, ob sie den Trip machen sollte. Schließlich hatte sie Pflichten in ihrem Job, der außer der Kontenführung auch die komplizierten Steuerberechnungen und die Überwachung der aus- und eingehenden Zahlungen umfasste. Besonders die Letzteren mussten genau kontrolliert werden, damit säumige Kunden nicht durch die Maschen schlüpften.
Aber Blake wollte sie dabeihaben. Und Blake war ihr Boss.
“Also gut”, sagte sie mit einem Schulterzucken. “Halten Sie mich auf dem Laufenden.”
Doug nickte und ging zur Tür. Auf der Schwelle zögerte er und drehte sich zu ihr um. “Ist alles okay mit Ihnen, Martha?”
Sie stutzte. Was meinte er mit seiner Frage? Doug Horowitz hatte nie mehr als ein oberflächliches kollegiales Interesse an ihr gezeigt – der übliche Schwatz in der Lunchpause, nichts Persönliches. Ob sie sich schon in ihrem neuen Haus eingerichtet hätte, ob die Angestellten in ihrer vorigen Firma Belegschaftsanteile erwerben konnten, oder wie viel Urlaub sie dort als Anfängerin bekommen habe.
Als Angehörige des weiblichen Geschlechts wusste Martha mehr über Doug als er über sie, da der Damenwaschraum in dem alten Firmengebäude auch als Klatschzentrale diente. Sie wusste, dass Doug gleich nach dem Studium geheiratet hatte und dass seine Ehe nach kurzer Dauer gescheitert war. Sie wusste, dass er eine teure Eigentumswohnung in der Nähe eines Golfplatzes besaß, dass er den Film “Pulp Fiction” für brillant hielt und dass er – dies konnte jedoch niemand beweisen – nicht mit Frauen anbändelte, die klüger waren als er. Alles in allem war es mehr, als Martha über ihn wissen
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