Nur für Schokolade
Abstand nie. Wir verdanken es, erstens, jenem deutschen Autor und Reporter, der hier unter dem Pseudonym Jaques Buval die Ergebnisse seiner Nachforschungen vorlegt, daß »Die
Geständnisse des wahrscheinlich größten Massenmörders unserer Zeit« überhaupt an eine größere, über den Schauplatz Polen hinaus internationale Öffentlichkeit gelangen.
Der Titel, zweitens, verblüfft immerhin spontan, was soll das 8
Wort »wahrscheinlich« in einem Kontext, in dem seit eh und je Fakten gelten oder ungerührt zugegeben wird, sie ließen sich nicht ermitteln, nämlich einem juristischen; was wird da summarisch relativiert, nachdem Pekalskis grausame Taten von Buval quasi im Indikativ und en detail beschrieben worden sind?
Am Ende, drittens, steht gleichwohl diese Erkenntnis: Buval beweist, daß seine Einschränkung sinnvoll und zudem über-zeugend für seine Redlichkeit ist. »Nur für Schokolade« hat sich der monströse Täter Pekalski ihm, dem Berichterstatter, geöffnet, schreibt Buval. ein »Honorar«, das Leszek scheinbar wertvoller war als alle anderen für ihn erreichbaren Güter der Welt; das, mit Verlaub, glaube ich dem Verfasser dann doch nicht ganz, auch wenn er es zu seinem Haupttitel gemacht hat.
Denn unerreichbar blieb zwar auch die letzte Wahrheit des kapitalen Falles; bei diesem Eingeständnis scheint das Gericht, daß sein hier im Leserinteresse nicht vorweggenommenes Urteil über Pekalski verkündete, vom biblischen König Salomon persönlich beraten worden zu sein.
Die Tatsache aber, daß niemand in Polen und in der übrigen Welt die erschreckenden Konturen des Falles Leszek Pekalski und den erbärmlichen, gewiß zutiefst zu bemitleidenden Un-Menschen hinter den Verbrechen auch nur annähernd so
verdeutlichen konnte wie Buval, überführt den Autor in diesem einzigen Punkt zweifelsfrei einer gewissen Koketterie. Der über Nacht angereiste Biograph, der dem vermutlichen
Massenmörder ohnehin wie ein Wesen von einem anderen
Planeten erschienen sein muß, dürfte seinen unheimlichen Gesprächspartner in einer weit stabileren, ihm bislang total fremden Währung dafür bezahlt haben, daß er sich öffnete; zu unser aller Nutzen mit Menschlichkeit und Vertrauen.
München, am 15. September 1997
Rolf Bossi Rechtsanwalt
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Leszek, der »kleine Junge«
Ein Mädchen wird vergewaltigt
Der Himmel ist verhangen über dem kleinen nordpolnischen Dorf Osieki. Schwarzgraue Wolken, fast zum Greifen nah, reihen sich am Firmament aneinander, als sich der katholische Geistliche des Ortes noch vor der Morgenmesse die Füße vertritt. Er ist ein kleiner, sehr schlanker Mann; seine tief-schwarzen Haare sind streng nach hinten gekämmt. Seine Kirche ist wie jeden Sonntag bis auf den letzten Platz gefüllt –
eigentlich nichts Ungewöhnliches in Polen, denn dies ist der einzige Ort, an dem die hart arbeitende Landbevölkerung alle Neuigkeiten austauschen kann. Die Kirche ist ein Ort des gegenseitigen Austauschs und der Informationen.
Und dieses System funktioniert. Von der Dorf-Hebamme
sind alle unterrichtet: Heute, am 12. Februar 1966, wird die Magd Cecylia niederkommen. Daß sie arm ist und mit ihrer Mutter auf einem kleinen, etwas heruntergekommenen Hof lebt, ist nichts Außergewöhnliches, denn mit Reichtum ist niemand in diesem Ort gesegnet. Aber daß sie als Ledige ein Kind erwartet, ist vor allem für die alten Frauen und natürlich für den Geistlichen unmöglich. Noch unmöglicher allerdings ist eine Abtreibung – dann soll ein junges Mädchen lieber seine Schande austragen, gleich, wie sich dies auf ihre Zukunft auswirkt.
An diesem 12. Februar 1966 weiß das ganze Dorf, daß
Cecylia durch eine jugendliche Sünde schwanger wurde. Die genauen Hintergründe kennt zwar nur sie allein, aber es kursieren die verschiedensten Versionen. Eine davon besagt sogar, daß Cecylia Opfer eines Verbrechens geworden ist.
eines Verbrechens der abscheulichsten Art. Man spricht von Vergewaltigung.
Auch dem Pfarrer kommt dies zu Ohren – und er predigt an 10
diesem Tag von einer »Begegnung mit Satan, dem Herrn alles Bösen«, als wolle er deutlich machen, welche furchtbare, unverzeihliche Sünde hier begangen worden ist. Doch es war nicht Satan, der dieses Mädchen schwängerte. Es war Jozef, ein einfacher Landarbeiter und Tagelöhner des Dorfes, den jeder kannte. Er ist von kleiner Statur, untersetzt, und: verheiratet. Er wohnte im selben Haus, in dem auch Cecylia mit ihrer Mutter lebte.
Wie ein räudiger
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