Nur Mut, liebe Ruth
finden. Aber trödle, bitte, nicht zu lange! Es würde mich ärgern,
wenn ich dich nachexerzieren lassen müßte.“
Ruth stob davon. Sie wußte nur
zu gut, daß Fräulein Freysing durchaus imstande war, ihre Drohung wahrzumachen,
denn gleich nach dem Turnen kam die große Pause, und Fräulein Freysing blieb
oft während der ganzen Pause in der Schwimmhalle.
Als sie zurückkam, in einem
schwarzen Badeanzug, der ihr zwei Nummern zu weit war, platschten die anderen
schon längst im Wasser herum und hießen sie herzlich willkommen. Vorsichtig
stieg Ruth die gekachelte Treppe zu ihnen hinunter. Jetzt, da ihre komplizierte
Lockenfülle unter einer Badehaube versteckt war, wirkte ihr Gesichtchen
geradezu winzig, und sie schauderte, bevor sie auch nur die Zehenspitze ins
Wasser gesteckt hatte.
„He! Beeil dich!“ rief Katrin
übermütig und spritzte sie voll.
„Du bist gemein!“ piepste Ruth
empört.
„Bangbüchse!“ — „Angsthase!“ —
„Feigling!“ spotteten die anderen.
„Komm hierher, Ruth!“ befahl
Fräulein Freysing vom anderen Ende des Beckens her, wo es tief war. „Du kannst
doch recht gut schwimmen!“
Ja, schwimmen konnte Ruth
wirklich, und warum auch nicht? Sie war ja gar keine schlechte Turnerin,
sondern gehörte sogar unter die Gelenkigsten in der Klasse. Trotzdem wurde es
ihr, sobald sie keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, mulmig zumute, und sie
sehnte sich wieder an das feste Land zurück, während andere Mädchen, die sonst
reichlich steif waren, wie zum Beispiel Olga Helwig, für die ein Pferd oder ein
Kasten unüberwindliche Hindernisse bedeuteten, sich wie die Fische im Wasser
tummelten.
Fräulein Freysing nahm sich Ruth
gesondert vor, ließ sie auf der Brust, auf dem Rücken schwimmen und zuletzt
auch tauchen.
O weh, meine schöne Frisur,
dachte Ruth entsetzt, während sie sich auf den Boden des Beckens sinken ließ,
was wird meine Mutti sagen! Da muß ich heute nachmittag bestimmt wieder unter
die Haube!
Ruths Eltern führten einen
eleganten Frisiersalon in der Innenstadt, und weil es ihr Beruf war, andere
Leute schön zu machen, schien es ihnen ganz selbstverständlich, daß auch ihr einziges
Töchterchen immer wie aus dem Schaufenster genommen aussah, und diese
Einstellung entsprach vollkommen Ruths eigener Eitelkeit.
Als sie wieder hochkam,
prustend und schnaufend und mit bekümmertem Herzen, lobte Fräulein Freysing
arglos: „Na siehst du, das ist doch wunderbar gegangen! Wie ich immer sage...
nur auf das richtige Atmen kommt es an, auf sonst gar nichts!“ Sie kletterte
aus dem Wasser, klatschte in die Hände und rief: „Erste Riege auf stellen zum
Springen!“
Ruths Herz sank, wenn es
möglich war, noch eine ganze Etage tiefer, und schnell versuchte sie, sich so
unsichtbar wie möglich zu machen.
Aber Fräulein Freysing hatte
sie nicht vergessen. „Du auch, Ruth!“ rief sie. „Komm nur!“
„Aber ich bin nicht
eingeteilt!“
„O doch! Gerade jetzt! Du wartest
doch hoffentlich nicht auf eine Sondereinladung?“
Wohl oder übel mußte Ruth sich
hinter den anderen oben, am Rand des Beckens, aufstellen.
„Wir üben es erst noch einmal
einzeln“, ordnete Fräulein Freysing an.
Eine der Schülerinnen nach der
anderen trat her zu ihr. Die Turnlehrerin legte jeder den Arm vor den Magen,
ließ sie sich dann, die Arme nach unten, wie ein Taschenmesser zusammenklappen
und auf: „Los!“ in die Fluten gleiten.
Es klappte bei allen, denn
unter Fräulein Freysings starken Händen war kein Widerstand und keine falsche
Bewegung möglich. Selbst Ruth schaffte es, es blieb ihr ja gar nichts anderes
übrig.
„Und nun noch einmal einzeln!
Aber jetzt jede für sich allein!“ kommandierte Fräulein Freysing.
Es kostete die meisten Mädchen
— außer Katrin, die eine begeisterte Springerin war — eine gewisse Überwindung,
sich kopfüber ins Wasser zu stürzen, und bei manchen hatte der Körper mehr
Ähnlichkeit mit einem Plumps als mit einem Sprung. Aber alle wagten sie es und
tauchten nachher glücklich und mit sich zufrieden wieder hoch.
Nur Ruth stand wie angewurzelt
am Rand des Beckens, fuchtelte mit den Armen, stieß den Kopf vor und — sprang
zu guter Letzt mit den Beinen voraus.
Sie hoffte, daß Fräulein
Freysing es nicht bemerkt haben würde, aber selbst wenn die Lehrerin einen
Augenblick nicht hingeschaut hätte, wäre sie durch das brausende Gelächter der
anderen aufmerksam geworden.
„He, Ruth, was sind das für
Geschichten!“ rief sie, als
Weitere Kostenlose Bücher