Nur Mut, liebe Ruth
Wort heraus. Weil sie
fühlte, daß alle, die die kleine Szene beobachtet hatten, sich im geheimen über
sie lustig machten, brach sie in Tränen aus, und die Mutter mußte sie trösten.
Ruth wußte, daß sie die Mutter
mit diesem Verhalten schrecklich enttäuschte. Aber was sollte sie machen?
Sie gewöhnte sich an, einen
großen Bogen um den Frisiersalon zu schlagen, aber damit waren ihre Probleme
noch längst nicht gelöst. Wenn sie einkaufen mußte, konnte sie sich nicht
durchsetzen und war stets die letzte, die an die Reihe kam; oft wurden
Kundinnen vor ihr bedient, die erst viel später gekommen waren.
Ruth hatte Angst vor der
Dunkelheit, Angst vor der Einsamkeit, Angst aber auch vor fremden Kindern, vor
Hunden und vor Katzen, Angst, eine Straße zu überqueren, Angst vor Jungen, ja,
sie hatte sogar Angst vor Polizisten.
Ach, es war wirklich kein
leichtes Leben, das die kleine Ruth führte, und das schlimmste war, daß niemand
sie wirklich verstand und sie von allen wegen ihrer Überängstlichkeit immer nur
gehänselt und ausgelacht wurde.
Wie gerne hätte sie sich
geändert und wäre so tapfer und frech geworden wie ihre Freundinnen!
Mutprobe
Frau Kleiber war, wie die
meisten Mütter, in manchen Dingen sehr eigen. Zum Beispiel gab es gar nicht
weit von der Kleiberschen Wohnung und dem Frisiersalon allein drei Blumenläden,
einer immer schöner als der andere, aber Frau Kleiber wollte ihre Blumen nicht
dort kaufen, sondern in der Gärtnerei Friedhelm Meister draußen am Stadtrand.
„Erstens“, pflegte sie zu
sagen, „sind Schnittblumen dort frisch, wie sie sonst nirgends sein können,
denn sie werden ja erst gepflückt. Wenn man sie im Laden kauft, weiß man nie,
wie lange sie schon im Wasser stehen. Zweitens sind sie in der Gärtnerei
billiger, und drittens ist Frau Meister eine unserer besten Kundinnen.“
Das war ja alles gut und schön,
kompliziert wurde es nur, weil Frau Kleiber Wert darauf legte, gerade übers
Wochenende die Wohnung voll frischer Blumen zu haben. Aber in den Tagen davor
war Hochbetrieb im Geschäft, und niemand hatte Zeit, zur Gärtnerei
hinauszufahren; nicht einmal Lotti und Karla, die Lehrmädchen, waren
entbehrlich.
„Schrecklich“, sagte Frau
Kleiber am Freitag abend beim Essen, „jetzt habe ich wieder niemanden, der zur
Gärtnerei hinausfährt und mir Blumen holt!“
„Meisters könnten sich auch
schön langsam einen Lieferwagen zulegen“, erklärte daraufhin Günther ungerührt.
„Aus dir wird auch nie ein
guter Kaufmann werden“, behauptete der Vater, „rechne doch mal nach! Die
Anschaffung eines Lieferwagens würde sich zwangsläufig auf den Preis der Blumen
schlagen und...“
„Ach, streitet euch doch
nicht“, fiel ihm Frau Kleiber ins Wort, „sagt mir lieber: Wer wird die Blumen holen?“
Ruth sah die Gelegenheit
gekommen, sich und ihrer Familie zu beweisen, daß sie doch kein Angsthase war.
„Ich“, piepste sie, ein bißchen zaghaft zwar, aber immerhin vernehmbar.
„Du?“ rief die Mutter erstaunt.
„Aber ich dachte immer...“ Sie stoppte mitten im Satz, weil sie dem
beschwörenden Blick ihres Mannes begegnet war.
„Ich halte das für eine sehr
gute Idee“, sagte Herr Kleiber, „Ruth hat Zeit genug, und der kleine
Spaziergang wird ihr bestimmt guttun.“
Damit war das Thema erledigt.
Ruth hätte sich zwar ein bißchen mehr Bewunderung erhofft, aber niemand traute
ihr ernstlich zu, daß sie ihren heldenhaften Entschluß tatsächlich durchführen
würde, und so zogen alle es vor, sich in vorsichtiges Schweigen zu hüllen.
Na, ihr werdet euch wundern!
dachte Ruth, die fest entschlossen war, ein neues Leben anzufangen.
Sie ließ sich genaue
Anweisungen geben, Blumen welcher Art und wie viele sie besorgen sollte — zu
bezahlen brauchte sie nichts, das wollte Frau Kleiber wie immer selber mit der
Gärtnerei erledigen — und zog am frühen Samstagnachmittag los. Sie war ganz
vergnügt und durchaus nicht ängstlich, wie sie sich immer wieder vorredete.
Wovor sollte sie sich auch
fürchten? Es war ein strahlender Vorfrühlingstag, und in der Stadt war sehr
viel weniger Verkehr als sonst, weil alle Leute, die einen Wagen hatten, ins
Freie gefahren waren. Alle Geschäfte waren zu, außer den Frisiersalons, den
Cafés und den Restaurants. In den Büros hatte man schon am Abend zuvor Schluß
gemacht, und es war alles so friedlich wie selten. Die Menschen, denen Ruth
begegnete, sahen aus, als wenn sie sich schon für ein Stelldichein
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