Nur Mut, liebe Ruth
Lächeln fügte sie hinzu: „Es tut mir leid, daß ich euch
einen solchen Schrecken eingejagt habe.“
„Zieh dich rasch an und trockne
dir das Haar“, sagte Fräulein Freysing, „ich möchte zur nächsten Stunde wieder
zurück sein.“ Sie verschwand in die Richtung auf die Lehrerkabinen.
Auch die anderen hatten es
jetzt eilig, aus ihren nassen Sachen zu kommen.
„Ich will ja nicht lästern“,
sagte Olga und riß sich die Bademütze von ihrem leuchtend roten Haar, „aber
wenn es nicht so unwahrscheinlich wäre, könnte ich glauben, du hättest es mit
Absicht gemacht, Ruth!“
Die Kleine lachte. „Nicht ganz!
Aber ich gebe zu, es kommt mir sehr gelegen. Viel Spaß bei der Mathe. Und
erzählt mir morgen, wie es gegangen ist!“ Sie lief zum Umkleideraum hin davon.
„So eine unverschämte Wanze“,
sagte Olga empört, „jetzt ärgere ich mich direkt, daß ich mir solche Sorgen um
sie gemacht habe.“
Katrin hatte inzwischen nach
Ruths Badekappe getaucht und sie aus dem Wasser geholt. „Sei friedlich“, sagte
sie, „wir haben allen Grund, uns zu freuen, daß es noch mal so ausgegangen
ist.“ Sie schwang sich aus dem Wasser. „Und was die Mathe-Arbeit betrifft, so
gehe ich jede Wette mit dir ein, daß sie sie wird nachholen müssen.“
„Wollen wir’s hoffen“, brummte
Olga und folgte Katrin in den Umkleideraum.
Bangemachen
gilt nicht
Katrin sollte recht behalten.
Ruth mußte die Mathematikarbeit
tatsächlich nachschreiben, noch dazu in der Freistunde am Donnerstag, die alle
anderen dazu benutzten, sich im Milchstübchen schräg gegenüber der Parkschule
an einem Eis zu erquicken. Es war zwar noch reichlich kalt draußen, aber den
Mädchen der 6 a schmeckte das Eis zu jeder Jahreszeit, und außerdem lag schon
so etwas wie Frühling in der Luft. Der Himmel war blau, und an den Bäumen des
Stadtwaldes konnte man schon ein erstes zaghaftes Grün entdecken.
So hatte Ruth durch ihr
tolldreistes Kunststück also nichts gewonnen, im Gegenteil, sie hatte sich eine
Menge Schwierigkeiten eingehandelt. Ihre Eltern, die sehr, sehr besorgt um ihr
einziges Töchterchen waren, hatten sich schrecklich aufgeregt und einen ganzen
Schwall Vorwürfe und Ermahnungen auf sie niederprasseln lassen, als sie
erfuhren, was geschehen war.
Dann hatte die Mutter ihr das
Haar gewaschen, die Strähnen auf unzählige Wickler und Klammern gedreht und
Ruth für eine gute Stunde unter die Haube gesetzt, eine Prozedur, die sie zwar
in Kauf nahm, weil sie ihrer Schönheit diente, der sie aber beim besten Willen
kein Vergnügen abgewinnen konnte.
Zudem taten ihr Bauch, Brust,
Beine und Arme von ihrem gewaltigen Platsch auf das Wasser weh und begannen
sich in den nächsten Tagen blau und grün zu verfärben, als wenn sie es nicht
zulassen wollten, daß Ruth das unangenehme Ereignis so bald wieder vergaß.
Ja, Ruth kam sich sehr
bemitleidenswert vor und fragte sich selber und ihre Freundinnen immer wieder:
„Warum muß bloß immer mir so etwas passieren!?“
Aber sie konnte von niemand
eine befriedigende Antwort darauf erhalten.
Natürlich bekam auch Frau Dr.
Mohrmann, die Klassenlehrerin, von der Geschichte Wind, und sie ließ sich davon
zu einem Thema für einen Klassenaufsatz anregen. Sie schrieb in ihrer hübschen,
flüssigen Schrift an die Wandtafel: „Wie ich mich einmal sehr gefürchtet habe!“
Die Mädchen riefen: „Ach!“ und:
„Oh!“ und: „Nicht schon wieder!“
Aber Frau Dr. Mohrmann blieb,
wie immer, unerbittlich. „Das ist ein sehr interessantes Thema“, sagte sie,
„ich bin sicher, es wird euch eine Menge dazu einfallen.“
„Mir nicht“, behauptete Silvy
und hob ihr spitzes Näschen noch ein paar Zentimeter höher, „ich habe mich
nämlich noch nie gefürchtet!“
„Ich auch nicht!“ — „Ich auch
nicht!“ riefen schnell ein paar andere.
Frau Dr. Mohrmann trat auf die
vorderste Tischreihe zu und blickte einer der vorwitzigen Schülerinnen nach der
anderen fest in die Augen. „Seid ihr ganz sicher?“
Silvy wurde ein bißchen rot.
„Na, schon möglich, daß ich irgendwann mal Angst gehabt habe“, räumte sie ein,
„als ich noch ganz klein war. Aber daran erinnern kann ich mich bestimmt nicht
mehr.“
„Schade“, sagte Frau Dr.
Mohrmann, „aber vielleicht kann eine andere mir sagen, wovor sie als kleines
Kind Angst gehabt hat.“
Olga meldete sich. „Ich habe
mich im Dunkeln gefürchtet“, sagte sie, „ich wollte immer, daß meine Mutter ein
Licht brennen
Weitere Kostenlose Bücher