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Nur Mut: Roman

Nur Mut: Roman

Titel: Nur Mut: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Bovenschen
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schließt: Es wird die Sache von wenigen gebildeten Amerikanern, Afrikanern und Asiaten sein, den Untergang Europas zu betrauern.
    Aber wenn es wenige nur noch sind, kann es ja wohl auch kein großer Verlust sein. Aus welcher universalen Perspektive will man das beschreiben?«
    Jetzt hatte Charlotte wieder den Schürhaken in beiden Händen. Der gewaltige Hieb traf die Tastatur des Flügels. Das bewirkte einen höchst dissonanten Lärm und einen Splitterregen aus weißen und schwarzen Tasten.

    »Es gibt keine Verzögerungen mehr, alles ist zugleich – wie die göttliche Zeit, die keine Zeit ist. Alles ist zugleich und nicht wie in der Zeit, alles ist vor der Zeit und nach der Zeit.
    Wie die …«
    Leonie zerquetsche auf der Seidentapete den Rest der für Rungholt bestimmten Schokoladentorte.

    »Die Erinnerung ist eine Hure, die unsere Ich-Legenden polstert. Sie schmeichelt uns, indem sie die Versatzstücke für eine gloriose Ichlegende andient.
    Würde ich eine Autobiographie schreiben, hieße sie: 999 Lügen über mich selbst. Und das wären nur die großen Lügen. Und ich hätte nicht einmal wissentlich gelogen.«
    Das war das Ende des TV-Geräts, in das Johanna eine ungeöffnete Champagnerflasche geworfen hatte.

    »Ich habe nicht gelebt. Mein Leben vollzog sich in den Figuren der Vorwegnahme. Ich eilte allem voraus. Fuhr ich zu einem Fest, sah ich mich schon auf der Heimfahrt. Kam die Vorspeise, dachte ich schon an das Dessert. Dekorierte ich einen Weihnachtsbaum, ersehnte ich schon seine Entsorgung.
    Jetzt schau ich zurück auf meine vergangenen Tage und frage mich, ob ich bei dem, was ich da sehe, wirklich dabei war. Jetzt erst, hier, in diesem Moment der Explosion, im Beisein von drei alten Krähen, bin ich zum ersten Mal ganz gegenwärtig.«
    Charlotte warf eine silberne Teekanne gegen die hohe Scheibe eines geöffneten Fensterflügels. Dort, wo die Kanne aufkam, entstand ein kleines Loch und um es herum weitausgreifend ein strahlenförmiger Splitterkranz. Das sah aus wie das Sonnenemblem von Ludwig XIV.

    Charlottes Fensterattentat war außerordentlich eindrucksvoll, nicht nur optisch, auch akustisch, weil die schwere englische Silberkanne nach ihrer scharfkantigen Begegnung mit der Glasscheibe krachend auf dem Fußboden aufkam. Daher blieb verborgen, dass Johanna zur gleichen Zeit die Ablaufdynamik (Rede – Aktion – Gelächter) durchbrochen hatte und ganz ohne verbale Einleitung ein scharfes Werkzeug (Messer, Schere, Glasscherbe, gesplittertes Kristall?) ergriffen, einen Hocker bestiegen und mit einer Geschicklichkeit und einer Kraft, die sie eigentlich nicht mehr besaß, einen Wandbehang (einen Gobelin aus dem siebzehnten Jahrhundert) attackiert hatte. Auf einer Länge von knapp zwei Metern klaffte ein Riss durch eine biblische Szene. Eine Wand wurde sichtbar.

    Sie war schwarz.

    Johanna lachte nicht.
    Sie sagte: »Jetzt ist die Zeit gekommen, da der Märchensatz ›Etwas Besseres als den Tod finden wir überall‹ seine Trostmacht verloren hat.«

    Als all dies gesagt und getan war, waren sie erschöpft und sanken auf die Sitze.

    »Das war gut«, sagte Johanna noch ein wenig atemlos.
    »Ja«, sagte Leonie.
    »Ja«, sagte Nadine.
    »Ja, das war gut«, sagte Charlotte.

    Sie saßen jetzt artig und einträchtig auf vier hochlehnigen Stühlen beieinander, die Hände auf dem Schoß gefaltet wie vier Damen aus alter Zeit, die gerade vom Kirchgang zurückgekehrt auf einen sonntäglichen Besucher warteten.
    Und tatsächlich, es war kaum eine halbe Minute vergangen, da ertönte die Türklingel.

VI
    Nadine öffnete die Haustür.
    Vor der Tür standen ein weißer Schwan, ein sehr alter Hund, ein rundlicher Herr und ein kleines Mädchen, das ein blaues Schäufelchen in der Hand hielt.
    »Guten Abend«, sagte der Schwan.
    »Wer sind denn Sie? Donald Duck?«, fragte Nadine.
    Der Schwan war empört.
    »Haben Sie keine Augen im Kopf? Ich bin ein Schwan, seit alters eines der edelsten Tiere.«
    Nadine bemerkte, dass er ein fein geschmiedetes goldenes Kettchen um seinen dünnen Hals trug. Es reichte bis auf seine blendend weiße Brust.
    Der Schwan richtete sich auf und breitete seine Schwingen aus.
    »In mir westen ein höchster Gott und ein armer Ritter. Ich steh für die erleuchtete und die arme Kreatur. Für das geflügelte Ross ebenso wie für den geschundenen Gaul, den ein Philosoph umarmte, für Kafkas Affen und Müllers Kuh. Auch für den Antitiger, den sich ein Frühsozialist erdachte, als die Utopien

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