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Nur Mut: Roman

Nur Mut: Roman

Titel: Nur Mut: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Bovenschen
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geschliffene Glas prüfend gegen das Licht der jetzt schon sehr tiefstehenden Sonne, die fast waagerecht durch die großen Fenster fiel und den Raum leuchten ließ.
    »Alles sprach für die Tat. Da war sein vergifteter Redeschleim. Um ihn irgendwie zu ertragen, um mich gegen das Gift zu immunisieren, schaute ich hinaus auf den Fluss, der immer mein Tröster war, schaute auf seinen brausenden Wellengang, schaute auf alles, was um seine Schaumkronen wirbelte, Hölzer, Gräser, Moose und auch allerlei zivilisatorischer Unrat, schaute auf all das, was seine starke Strömung gleichmütig und machtvoll mit sich riss, sah, wie er alldem Richtung und Ziel gab. Und als Rungholt endlich mit seinem hämisch vorgetragenen Geständnis zum Ende kam, war meine Menschlichkeit verbraucht. Da hörte ich die tieftönenden Glocken des Doms zur sechsten Stunde schlagen. Wie zur Beglaubigung. Ich dachte auch daran, dass in seinen Mauern einst zehn Krönungen stattgefunden hatten. Da war die Zeit gekommen. Und …«
    Leonie unterbrach sie. Sie konnte nicht länger ertragen, dass Charlotte den Tathergang so schilderte, als wollte sie eine interessante Episode aus lange vergangenen Tagen zum Besten geben.
    »Jede von uns wäre zu so einer Tat fähig. Je nach Lage, je nach Verfassung, je nach Gelegenheit. Ich zum Beispiel hätte den fahrerflüchtigen Autofahrer, der den Wagen mit meinen Kindern und meinem Mann darinnen von der Straße gedrängt hat, ohne Skrupel erledigt.«
    »Und ich das Flittchen, das mir den Geliebten nahm«, sagte Nadine.
    »Auch in meinem Leben gab es Situationen, in denen ich …«, setzte Johanna an.
    Charlotte unterbrach sie: »Bitte keine Psychologie. Nochmals: Eure Rechtfertigungen ekeln mich. Ich will keine lauen Beschwichtigungen, keine gerechten Abwägungen, kein kränkendes Wohlwollen, keine erschlichene Güte, keine Hinweise auf Chancen, auf Fluchtwege oder irgendein zukünftiges Gelingen. Verschont mich, kümmert euch gefälligst um euch selbst. Ich will nur noch im Düsteren mein Wohlbehagen finden. Das ist mein Wunsch und mein Wille.«
    Pause.
    Charlotte
    gönnte sich einen kräftigen Schluck Rotwein.
    »Ich bin jetzt eine Ausgestoßene. Ich selbst habe mich aus allen moralischen Verabredungen, die auch meine waren, ausgestoßen.«
    Sie hob ihr Glas.
    »Ich überantworte mich Apophis, dem ägyptischen Gott der Auflösung der Finsternis und des Chaos.«
    Pause.
    »Euch aber rate ich: Haltet euch ganz heraus, sagt, dass ihr im ersten Stock auf euren Zimmern hinter dicken Mauern verschanzt von der Rungholt-Ermordung nichts bemerkt hättet. Oder geht ins Kino oder in ein Restaurant. Erzählt nach eurer Rückkehr der herbeigerufenen Polizei von meinem Wahnsinn.«
    »Nein«, sagte Johanna, »das werde ich nicht tun. Ich werde bei dir bleiben.«
    Charlotte schüttelte den Kopf.
    »Ich werde nicht hierbleiben. Ich werde dieses Haus verlassen und es nie wieder betreten.«
    »Dann gehe ich mit«, sagte Johanna, »wohin auch immer.«
    »Bei Lichte besehen, haben wir alle vier nichts mehr zu verlieren«, sagte Nadine.
    »Wir gehen alle mit dir«, sagte Leonie, »alle anderen Möglichkeiten scheiden aus. Ich habe eine Reportage gesehen, über Alte, die man nach Thailand verbracht hat, weil es dort noch Frauen gibt, die für ein Geringes bereit sind, anstrengende Pflegedienste zu leisten. Ich aber möchte nicht nach Thailand. Ich weiß nicht einmal, welche Sprache man dort spricht.«
    »Thai«, sagte Johanna.
    »Wie bitte?«
    »Thai.«?
    »Thai, so heißt die Sprache.«
    »Ich möchte nicht dorthin.«
    »Musst du auch nicht.«
    »Was könnten wir tun, wenn wir jung und gesund wären?«, fragte Nadine.
    »Wir könnten irgendwo auf dem Land eine Hütte bauen, eine kleine Hütte mit einer Feuerstelle und einem Brunnen, wir könnten Gemüse anpflanzen, wir könnten vielleicht ein paar Hühner und Karnickel haben und eine Ziege«, sagte Leonie.
    »Ja, niedlich«, sagte Johanna, »aber diese Idylle würde es bei einem Asteroideneinsturz auch atomisieren.«
    »Nicht alles hilft gegen alles.«
    »Wer wird an uns denken, wenn wir nicht mehr sind?«, fragte Nadine.
    »Das ist alles Quatsch«, sagte Charlotte, »es gab uns. Und damit basta. Bald wird das niemanden mehr interessieren, und das ist auch in Ordnung so! Und es ist unerheblich, ob unsere vergangenen Existenzen ein wenig länger oder nur ganz kurz im Gedächtnis Lebender sein werden.«
    »Ja, das geht uns am Arsch vorbei«, sagte Nadine, die auch einmal ordinär werden

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