Nur wenn du mich hältst (German Edition)
den Lehrern war er zwar still, arbeitete im Unterricht aber gut mit. Man glaubte allgemein, dass er sich langsam heimisch fühlte.
Trotzdem machte er sich Sorgen. Er spürte, dass AJ ständig auf der Hut war. Der Junge hatte sich einen dicken Schutzpanzer zugelegt und hielt alle Leute auf Abstand.
Bo wusste, wie es war, ein machtloses Kind zu sein. Er kannte diese rastlose, misstrauische Unruhe, die Ungeduld, die in einem brodelte. Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn man sich danach sehnte, dass endlich etwas geschah, sogar wenn das bedeutete, dass man selbst irgendeine Dummheit anstellen musste. Gott wusste, er war einst genauso gewesen.
Jeden Morgen stand er an der Haustür und schaute zu, bis AJ in den Schulbus stieg. Jeden Nachmittag wartete er an derselben Stelle darauf, ihn aussteigen zu sehen. Dabei verkrampfte sich sein Magen, bis er seinen Sohn endlich auftauchen sah.
An diesem Tag zeigte die Sonne sich zum ersten Mal und verwandelte den Garten in ein Feld aus glitzernden Diamanten.
Als Kim ins Foyer trat und seine nachmittägliche Wache unterbrach, hieß Bo die Abwechslung willkommen. Von ihr ließ er sich gerne ablenken. Nach dem Fotoshooting hatte er sich eingeredet, die Gefühle, die er bei dem Kuss empfunden hatte, seien vielleicht nur der Entspannung nach einem langen Tag geschuldet gewesen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sein Herz in trog. Anstatt abzunehmen, war seine Zuneigung zu ihr in den letzten Tagen immer stärker geworden. Da er jedoch so viel zu tun hatte, war er noch nicht dazu gekommen, sich weitergehende Gedanken darüber zu machen.
„Du bist überfürsorglich“, sagte sie. „Seit AJs Ausflug nach New York benimmst du dich wie eine Mutterhenne.“
„Kannst du mir das verdenken?“
„Nein, es ist durchaus verständlich. Nicht hilfreich, aber verständlich.“
„AJ tut mir leid“, sagte er. „Er hasst es hier immer noch.“
„Hat er dir das gesagt?“
„Das muss er nicht, das sieht man auch so. Er schreibt seiner Mutter Briefe, obwohl wir keine Ahnung haben, ob die sie jemals erreichen. Das bringt mich um, und ich kann mir gut vorstellen, was das bei ihm anrichtet. Er hat bisher keine Freundschaften geschlossen und tut eigentlich nichts weiter, als die Tage zu zählen. Das ist keine Art, sein Leben zu leben.“
„Und das weißt du weil …“, hakte sie nach.
„Weil er darauf wartet, dass etwas passiert … Menschen verbringen ihr ganzes Leben so und schauen dann irgendwann zurück und fragen sich, wo all die Zeit hin ist.“
„Ist das die Stimme der Erfahrung, die da spricht?“
„Es ist zumindest einer der Gründe, weshalb ich mich für die Independent League entschieden habe, anstatt den üblichen Weg über die unteren Ligen zu gehen. Wenn man nur darauf wartet, für die Major League entdeckt zu werden, ist man so sehr auf die Zukunft konzentriert, dass man glatt verpasst, was direkt vor der Nase passiert. Ich habe Baseballspieler gesehen, die so damit beschäftigt waren, ihren nächsten Schritt zu planen, dass sie ganz vergaßen, wo sie im Leben standen. Das ist der Silberstreif am Horizont meiner langen Warterei auf die Yankees. Ich habe aufgehört, mich darauf zu konzentrieren, wie ich dorthin gelangen kann, und stattdessen angefangen, im Hier und Jetzt zu leben.“
„Das gefällt mir. Aber wie willst du es schaffen, dass er auch so denkt?“
„Gute Frage.“ Er wandte sich vom Fenster ab und sagte sich, AJ würde nach Hause kommen, ob er nun Wache stand oder nicht. „Ich möchte definitiv nicht, dass er irgendwann einmal auf diese Zeit zurückschaut und nichts als Ärger sieht. Ein Junge verdient es, glücklich zu sein.“ Kim betrachtete ihn lächelnd. Mein Gott, wo war diese Frau mein ganzes Leben über gewesen? Und wie bringe ich sie dazu, zu bleiben? „Was?“, fragte er.
„Du bist ein Philosoph. Woher hast du diese Gedanken?“
„Keine Ahnung.“ Seine Mutter fiel ihm ein. Beinahe bis zu dem Tag ihres Todes hatte sie sich von Moment zu Moment treiben lassen, überzeugt, den richtigen Mann, den richtigen Job, das richtige Leben zu finden, wenn sie nur geduldig genug wartete. Selbst als er noch klein gewesen war, hatte er gespürt, dass sie durch ihn hindurchschaute, um zu sehen, was danach kommen würde. Er erinnerte sich daran, wie er sich nach mehr Aufmerksamkeit von ihr gesehnt hatte, doch sie hatte ihm nicht geben können, was er brauchte.
Er führte sich vor Augen, wie Kim mit AJ umging. Sie verbrachte viel Zeit mit ihm, half ihm
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