Nur wenn du mich hältst (German Edition)
„Einfach nur brillant.“
Er musste sich zwingen, sich auf die Straße zu konzentrieren. Es war zu verlockend, ab und zu einen Blick auf das schlafende Kind zu werfen. Bestand zwischen ihnen irgendeine Ähnlichkeit? Gab es etwas, das diesen Jungen als seinen kennzeichnete? Er konnte es nicht sagen. Den Rest des Weges nach Avalon fuhr er zur Musik von Stanley Clarke und Jaco Pastorius, die aus dem MP3-Player des Z4 ertönte.
Für ihn war Musik immer schon mehr als nur ein Hintergrundgeräusch gewesen. Es war ein Ruhepol für seine Gedanken, eine Art Zufluchtsstätte, sein Zuhause, dort, wo er in Sicherheit war. Das hatte er als Kind erfunden, wenn er wieder einmal allein im lärmigen, lauten Trailer Park in Texas City zurückbleiben musste. Die Luft roch nach verbrennendem Petroleum aus den nahen Raffinerien, der Himmel zeigte durchgängig ein trübes Bernsteingelb, selbst in der Nacht, weil die Raffinerien niemals schliefen. Seine Mutter und sein Bruder waren die meiste Zeit des Tages unterwegs, und er hatte festgestellt, dass Musik die dunklen Ecken des Trailers füllen und die Geräusche der streitenden Nachbarn, der bellenden Hunde, der lauten Trucks und Motorräder, die kamen und fuhren, ausblenden konnte.
Als er ungefähr zwölf Jahre alt war, schenkte ihm Stoney einen Elektrobass und einen Verstärker. Das Instrument war natürlich geklaut; alles von Wert, was Stoney mit nach Hause brachte, war geklaut, doch er hatte trotzdem nicht widersprochen. Klar, zu klauen war falsch, aber Stoney war gut darin und beklaute außerdem nur die Leute, die ihm Geld schuldeten.
Er brachte sich das Spielen selbst bei.
Jetzt schaute er zu AJ und fragte sich, ob der Junge wohl Musik mochte. Oder ob er überhaupt irgendetwas mochte. Dieses Kind, dessen DNS zur Hälfte von ihm stammte, war für ihn ein Fremder. Bo unterlag nicht der romantischen Vorstellung, dass sich zwischen ihnen eine tiefe, ein Leben lang anhaltende Verbindung einstellen würde, nur weil sie blutsverwandt waren.
Diese Illusion hatte ihm sein Vater geraubt. Wiley Crutcher hatte seine Mutter Trudy geheiratet und war gerade lange genug mit ihr zusammengeblieben, um ihr seinen Nachnamen zu verpassen, der an ein medizinisches Hilfsmittel erinnerte, und zwei große, athletische Jungen. Wiley war gegangen, als er noch ein Baby war. Seine einzige Erinnerung an den Mann stammte von einer Begegnung in der Grundschule. Wiley war zu einem Little-League-Spiel gekommen; Bo hatte keine Ahnung, weshalb. Seine Mutter stellte sie einander vor.
„Das ist er?“, hatte Wiley gefragt.
„Ja. Das ist Bo. Bo, das ist dein Daddy.“
Bo erinnerte sich an das Gefühl, von diesen Augen gemustert zu werden. Wiley Crutcher hatte einen Schluck aus einer Flasche genommen, die in einer braunen Papiertüte steckte, dann hatte er sich mit dem Handrücken den Mund abgewischt und gesagt: „Sieht nicht nach viel aus.“
„Oh, er ist ein echt guter Baseballspieler. Warte nur, bis du ihn gesehen hast.“
„Ach ja?“ Wiley hatte ihm eine Münze zugeworfen. Sie hatte ein Dreieck und einige Worte eingraviert. „Hier, Kleiner. Soll dir Glück bringen.“
Manche Väter schenkten ihren Söhnen Fahrräder und Baseballhandschuhe. Er bekam einen einmaligen Besuch und diese Münze. Sein Vater war nicht geblieben, die Münze hatte ihm jedoch Glück gebracht. Wenigstens etwas. Bo hatte an dem Tag seinen ersten Shutout geschlagen. Sein Team und sein Coach waren vor Freude fast durchgedreht, aber als das Spiel zu Ende war, war sein Vater bereits gegangen. Er holt sich ein Bier, hatte seine Mutter erklärt, doch er kehrte nie wieder zurück.
Als Bo jetzt diesen Jungen betrachtete, diesen fremden Sohn, den er am Flughafen abgeholt hatte wie ein verlorenes Gepäckstück, machte er sich nicht vor, dass die Zärtlichkeit, die er in seinem Herzen spürte, während er ihn beim Essen und Schlafen beobachtete, von irgendetwas anderem als Mitleid herrührte. Die Mutter des Kindes war in der Fabrik, in der sie seit zehn Jahren arbeitete, verhaftet worden und erwartete ihre Abschiebung. Kein Wunder, dass der Junge total verstört war.
Sophie bekommt das wieder hin, redete er sich gut zu. Vielleicht schon übers Wochenende. Sie war brillant, wenn es um Rechtsangelegenheiten ging. Es hatte also gar keinen Sinn, sich irgendwie an dieses Kind zu gewöhnen. AJ würde im Nullkommanichts zurück bei seiner Mutter sein.
Ein paar Stunden später erreichten sie Avalon, ein Städtchen, das für Bo und die meisten
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