Nur wenn du mich hältst (German Edition)
Zugereisten zu hübsch war, um wirklich zu existieren. Am südlichen Ende des Willow Lake gelegen, schien die Stadt von der Zeit vergessen worden zu sein; die Jahreszeiten wechselten, doch die Landschaft blieb unverändert. In seinen Augen kam der zugefrorene See einer weitläufigen, weißen Hölle gleich. Er hielt sich bei diesem Wetter bevorzugt drinnen auf, wo echte Männer Billard spielten und Bier tranken.
Was Wintersport anging, so hätte er sich lieber einer Wurzelbehandlung unterzogen, als daran teilzunehmen. Er war ein Sommermensch durch und durch, aufgewachsen in der klebrigen Hitze der texanischen Golfküste. Es war nicht seine Entscheidung gewesen, in die Tundra zu ziehen. Anfänglich war er herkommen, weil die Avalon Hornets als einziger Verein ihn als Pitcher hatten haben wollen. Jetzt war er hier fest verwurzelt und wartete auf eine im Leben einmalige Gelegenheit, die zum Greifen nahe war.
Die Stadt hatte einen Bahnhof, an dem täglich mehrere Züge in Richtung New York City im Süden und Albany im Norden abfuhren und ankamen. Der Marktplatz war umgeben vom Gerichtsgebäude, Läden und Lokalen, die das ganze Jahr über den Touristen zur Verfügung standen. An den idyllischen Straßen, die von diesem Platz abgingen, befanden sich Wohnhäuser, Schulen und Kirchen.
Er fuhr am Apple Tree Inn vorbei, einem teuren Restaurant, in das man eine Frau ausführte, wenn man sie beeindrucken und damit die Chance erhöhen wollte, später mit ihr im Bett zu landen. Im Avalon Meadows Country Club nippten die örtlichen Snobs an ihren Martinis und tauschten Reiseberichte aus.
Und dann gab es noch die Hilltop Tavern. Sein zweites Zuhause, seit er hergezogen war. Die Kneipe gehörte Maggie Lynn O’Toole, die ihren Ex im Zuge der Scheidung hatte auszahlen müssen. Die Bar befand sich in einem historischen Gebäude oben auf dem Oak Hill und hatte als Flüsterkneipe während der Prohibition angefangen. Über die Jahre hatte sie viele Veränderungen durchgemacht und war nun die beliebteste Wasserstelle in der Stadt. Er wohnte in einer Einzimmerwohnung über dem Schankraum.
AJ wachte nicht auf, als er auf den beinahe leeren Parkplatz hinter dem Backsteingebäude einbog und den Motor ausstellte. Verdammt, was jetzt? Er hasste die Vorstellung, den Jungen nach der harten Nacht zu wecken. Gott wusste, zu schlafen war für den Kleinen besser, als wach zu sein und sich nach seiner Mutter zu sehnen. Aber sie konnten nicht den ganzen Tag im Auto sitzen bleiben.
„Hey, AJ, wir sind da.“
Der Junge reagierte nicht.
Bo stieg geräuschvoll aus dem Wagen und machte extra viel Krach, als er das Gepäck aus dem Kofferraum holte. Er brachte sie hinein und eilte wieder hinunter, ging zur Beifahrerseite und öffnete die Tür. „Hey, wir sind da“, sagte er noch mal. „Komm mit nach oben, da kannst du weiterschlafen.“
AJ schlief tief und fest. Die frische Luft ließ ihn kurz erschauern, doch er wachte nicht auf. Bo überlegte ihn anzustupsen, fand es dann aber zu grausam, ihn aus diesem tiefen Schlaf zu wecken und in eine fremde, kalte Welt voller Sorgen zu schubsen. Also löste er den Sicherheitsgurt, beugte sich vor, schob einen Arm hinter AJs Rücke und den anderen unter seine Knie und hob den Jungen hoch.
AJ zuckte nicht einmal mit der Wimper. Erstaunlich. Genauso erstaunlich wie die Tatsache, dass er das erste Mal in seinem Leben seinen Sohn in den Armen hielt. Zwölf Jahre zu spät trug er ihn. Er war klein, aber nicht zu klein. Bo wankte ein wenig, während er versuchte, auf dem vereisten Boden die Balance zu halten. Verdammt. Auf diese Weise könnte er sich sein Knie verdrehen. Das würde alle seine Chancen zunichtemachen.
Er bewegte sich langsam und vorsichtig und spürte nach, ob er irgendeine Verbindung zu diesem Bündel Mensch in seinen Armen empfand. Vielleicht würde sie jetzt kommen, wo er ihn endlich berührte.
Aus der Kneipe dröhnte Musik, durchsetzt von Gelächter und Gesprächsfetzen. Die Nachmittagsgäste waren nicht allzu laut, aber nun hörte er sie mit neuen Ohren. Instinktiv zog er die Schultern hoch, wie um den Jungen vor dem störenden Lärm zu schützen. „Komm, bringen wir dich rein, Kumpel“, murmelte er und ging zur Tür.
Der Teppich auf der Treppe und im Flur war schmutzig von den Winterstiefeln. Das war ihm bisher nie aufgefallen. Er würde mit Maggie Lynn darüber sprechen, ihn auszutauschen. In seiner Wohnung setzte er AJ vorsichtig auf dem durchgesessenen Sofa ab, das beinahe eine ganze
Weitere Kostenlose Bücher