Nur wenn du mich hältst (German Edition)
können, hätte er auf einer Skala von null bis zehn eine glatte Neunundneunzig erreicht. Im Sommer vor dem Abschlussjahr auf der Highschool war er in Yolanda Martinez verliebt gewesen. Sein Plan, nach New York zu fliegen, um Baseball zu spielen, hatte zu einem riesigen Streit zwischen ihnen geführt. Sie glaubte, er würde sie sitzen lassen, aber er argumentierte, wenn er nur gut genug wäre, könnte er ein Stipendium fürs College bekommen, was bedeutete, er hätte tatsächlich die Aussicht auf eine bessere Zukunft.
Er war der beste Baseballspieler gewesen, der je das Trikot der Texas City Stings getragen hatte, und das war keine Angeberei, sondern eine Tatsache. Und endlich, endlich war er für eines der exklusivsten Baseballprogramme im Land ausgewählt worden, bei dem er mit den Top-Spielern der Highschools und, noch beachtlicher, vor den Augen der wichtigsten Talentscouts trainieren konnte.
Auf dem Weg nach New York City hatte er nicht für eine Sekunde die Augen zugemacht. Sicher, er war müde gewesen, und der Flug war ihm endlos vorgekommen, aber er hatte keine Minute dieses Abenteuers, in einem Flugzeug zu sitzen, verpassen wollen. Sein ganzes Leben lang hatte er die Maschinen beobachtet, die silbernen Blitze im trüben Dunst über Texas City, und sich vorgestellt, an Bord zu sein, sich über die verschmutzte Luft zu erheben und irgendwohin zu fliegen, wo der Himmel klar und rein war. Es war ihm ziemlich egal gewesen, welches Ziel sie hatten, Hauptsache weg, selbst wenn er Yolanda zurückließ, bei der es ihm noch nicht gelungen war, sie ins Bett zu kriegen.
Zu fliegen war genauso, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Als die Frau am Gate sah, wie groß er war, gab sie ihm einen Platz am Notausgang mit viel Beinfreiheit. Dafür musste er nur zustimmen, im Notfall zu helfen. Was ein Witz war, denn in einem Notfall hätte er sich die Seele aus dem Leib geschrien wie jeder andere auch, aber das behielt er lieber für sich. Er hatte das Programmheft vom Trainingscamp mit an Bord genommen, das eine detaillierte Beschreibung jedes einzelnen Teilnehmers enthielt. Dazu ein Buch mit dem Titel Die Prophezeiungen von Celestine . Es war ein aktueller Bestseller und in jedem Flughafenbuchladen prominent ausgestellt. Er war ein schneller Leser, und es war ein kurzes Werk, das er in den Pausen, wenn er gerade mal nicht aus dem Fenster guckte, durchlas.
Der Held in Die Prophezeiungen von Celestine folgte der Spur eines uralten Manuskripts und kam zu immer neuen spirituellen Einsichten, wie zum Beispiel, dass es göttlich war, Vegetarier zu sein, und dass jeder Mensch seine persönliche Mission im Leben kennen sollte. Es gab keine großartige Geschichte, aber er sah, dass mehrere andere Passagiere ebenfalls dieses Buch lasen, und blieb in der Hoffnung dabei, dass es irgendwann interessanter würde. Die meiste Zeit jedoch schaute er aus dem Fenster. Draußen sah es aus wie in einem Fantasiereich. Manchmal gab es nur Wolken, die wie Zuckerwatte umherschwebten. So sah der Himmel in all den Filmen aus, die er gesehen hatte. Zwischendurch klarte das Wetter immer wieder auf, sodass er weit unten die Erde sehen konnte. Gewundene Flüsse durchzogen die grüne Landschaft wie silberne Bänder, und alles, selbst die breitesten Straßen, wirkte winzig und beinahe surreal. Als flöge man über eine Landkarte der Welt.
Der Geschäftsmann, der neben ihm saß, hatte die Ausstrahlung eines Mannes, der schon überall gewesen war und alles gesehen hatte. Bo fühlte sich ein wenig eingeschüchtert, doch als die Stewardess mit dem Essen kam, konnte er sich nicht zurückhalten. Er war kurz vorm Verhungern – wie hätte er da eine warme Mahlzeit ausschlagen sollen? Und noch dazu eine, die eines Königs würdig gewesen wäre: ein Stück Fleisch in Form eines Footballs auf einem Bett aus Reis, grünen Bohnen und einer dunklen Soße. Ein Salat in einem eigenen Schüsselchen und ein noch winzigeres Schälchen mit Dressing. Ein Brötchen mit Butter und ein kleiner Schokobrownie. Sein Blick fiel wieder aus dem Fenster, und er dachte, er sei tatsächlich im Himmel.
Er verschlang alles und trank dazu eine Tüte Milch. Der Geschäftsmann neben ihm schaute ihn an. „Möchtest du meins auch? Ich habe es nicht angerührt.“
„Gerne, dankeschön“, sagte Bo.
Der Mann reichte ihm den in Folie gewickelten Teller mit dem Fleisch und legte das Brötchen obenauf. Damit schien das Eis gebrochen zu sein, denn er fragte: „Ist das dein erster Flug
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