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Nur wenn du mich hältst (German Edition)

Nur wenn du mich hältst (German Edition)

Titel: Nur wenn du mich hältst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Wiggs
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allzu langer Zeit war er genauso gewesen, alleine und verängstigt, und hatte seine Angst hinter der gleichen zähen, misstrauischen Reserviertheit verborgen.
    „Wie geht es dir?“, fragte er, nicht aus vorgetäuschtem, sondern aus echtem Interesse. Er wollte die Tür ein Stückchen öffnen, falls dem Jungen danach war, mit jemandem zu reden.
    Der Kleine schaute ihn kurz an. Julian wusste, dass er Menschen einschüchterte. Er war zwar ein Mischling, doch er sah aus wie ein hundertprozentiger Schwarzer, war sehr groß und vom körperlichen Training bei der Air Force breitschultrig und muskulös. Sein Kopf war glatt geschoren wie eine Billardkugel. Früher hatte er Dreadlocks gehabt, aber die waren beim Militär natürlich nicht erlaubt, also hatte er sie am Tag vor Beginn seiner Ausbildung auf dem Fußboden eines Friseursalons gelassen.
    Der Latinojunge zuckte mit den Schultern. „Ging schon mal besser“, sagte er.
    Julian wollte ihn nicht bedrängen, doch seine Neugierde war geweckt. „Ja? Wie kommt’s?“
    „Mir geht’s gut“, murmelte der Kleine.
    Offensichtlich hatte man ihm beigebracht, dass man nicht mit Fremden reden sollte. „Besuchst du jemanden in der Stadt?“, hakte er beiläufig nach.
    „Ja.“
    Julian wusste nicht genau, wieso, aber er spürte, dass der Junge log oder etwas verbarg oder beides. „Ich bin auf dem Weg nach Montgomery in Alabama“, sagte er und streckte ihm eine Hand hin. „Julian Gastineaux.“
    „AJ“, erwiderte der Kleine.
    Er nahm die dargebotene Hand, lehnte sich jedoch ein wenig von ihm weg. Okay, ich verstehe den Hinweis, dachte Julian. Er versuchte es noch einmal: „Bist du hier aus der Gegend?“
    „Nö.“ Die Finger des Jungen krallten sich fester um seinen Rucksack.
    Na gut. Julian startete einen letzten Versuch, ihn aus sich herauszulocken. „Ich bin in New Orleans aufgewachsen.“
    Keine Reaktion von Mr Happy, also lehnte er sich zurück, schloss für ein paar Minuten die Augen und dachte an New Orleans. Damals hatte es nur ihn und seinen Dad gegeben. Sie beide gegen den Rest der Welt. Als Physiker an der Tulane University hatte Maurice Gastineaux seinen Sohn mit viel Liebe und viel Chaos großgezogen, so wie man es von einem geistesabwesenden Professor erwartete. Maurice war Raketentechniker gewesen, und das hatte er auch werden wollen. Doch anders als sein intellektueller Vater brauchte er Action. Er wollte nicht einfach nur Raketentechniker sein, er wollte die Rakete sein.
    Er döste ein wenig, wurde vom Vibrieren seines Handys geweckt und klappte es auf. Eine SMS von Daisy. Ich vermisse dich jetzt schon .
    Dazu gab es nichts zu sagen. Sie wusste, dass er sie auch vermisste. Es war die Art Vermissen, die sich anfühlte, als fehle einem ein Bein. Eine große Lücke, die so sehr schmerzte, dass man es kaum beschreiben konnte. Seine Mitbewohner an der Cornell hielten ihn für verrückt. Welcher Junge bei klarem Verstand verliebte sich in ein Mädchen, das eine dreistündige Zugfahrt entfernt wohnte und von einem anderen ein Kind hatte?
    Dann zeigte er ihnen immer ein Foto von Daisy, und sie sagten: „Oh, okay, das kann man natürlich verstehen.“
    Sie hatte ein Aussehen und eine Ausstrahlung, die Leute auf der Straße stehen bleiben und sie anstarren ließ. Man sah sie förmlich vor sich, die Göttin mit der goldenen Mähne, die auf einem Renaissancegemälde in einer Muschelschale saß und deren langes Haar hinter ihr im Wind flatterte. Was seine Mitbewohner nicht verstanden, war, dass er vermutlich auch in sie verliebt wäre, wenn sie aussähe wie eine der Gorgonen.
    Ihr Leben war so kompliziert. Sie hatte ein Kind. Und nicht nur irgendein Kind. Charlie hatte die roten Haare und das blaue Blut seines Vaters Logan O’Donnell. Logan war in allem das genaue Gegenteil von ihm, lilienweiß, aufgewachsen in Reichtum und mit Privilegien. Das Einzige, was sie beide gemeinsam hatten, war ihre Liebe zu Daisy Bellamy.
    Aufgewühlt öffnete er die Augen. Der Junge neben ihm schaute angestrengt aus dem Fenster. Julian musterte ihn einen Moment und dachte an das Seminar in angewandter Psychologie, das er als Teil seiner militärischen Ausbildung absolviert hatte. Der Kleine zeigte Anzeichen von Stress – er wackelte mit den Füßen, kaute auf seiner Unterlippe. Irgendetwas an dem Kind erinnerte ihn an sich in jüngeren Jahren. Er war ungefähr im gleichen Alter gewesen, als sein Dad einen Autounfall hatte und schließlich an seinen Verletzungen starb. Er hatte den

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