Nur Wenn Du Mich Liebst
Mutter saß neben ihr, die Augen geschlossen, den Kopf an die hellrosa Wand gelehnt, unter dem Bild eines sich im Wasser tummelnden Delfins.
»Er macht nur ein bisschen Sport«, erklärte Chris dem kleinen rothaarigen Mädchen und versuchte, nicht an Montana in diesem Alter zu denken.
Sofort war die Kleine aufgesprungen und stand neben dem Käfig.
»Vorsichtig, sie könnte beißen«, warnte Chris.
Sofort machte das Mädchen, die Arme instinktiv schützend um ihr Kätzchen gelegt, einen Schritt zurück, und ihre hellgrünen Augen wurden groß wie Untertassen. »Beißt sie auch Fluffy?«
Sie würde Fluffy zum Frühstück verspeisen, dachte Chris, sagte jedoch nichts, sondern staunte vielmehr darüber, wie früh der Beschützerinstinkt in einem Menschen erwachte. Wieder versuchte sie, nicht an Montana zu denken, doch wie üblich war ihre Tochter überall. Ihr Bild füllte den leeren Stuhl, ihr Schatten hing vor dem Fenster wie ein schwerer Vorhang, ihre Augen saugten das Licht von der Straße, ihr Mund die Luft aus dem Raum wie Wasser durch einen Strohhalm. Chris wurde schwindelig, und sie hatte das Gefühl, als ob ihr die Luft abgeschnürt wurde.
»Das Telefon!«, bellte Dr. Marcus erneut.
»Das Telefon«, wiederholte Lydia und wippte mit dem Kopf, als wollte sie den Worten Nachdruck verleihen. »Das Telefon. An das verdammte Telefon gehen.«
Chris schloss die Augen, versuchte das auftauchende Bild ihrer Tochter zu verdrängen, und rang nach Luft, die in ihre Brust drang wie Messerstiche, während sie den Hörer kurz abnahm und sofort wieder auf die Gabel legte.
»Wieso haben Sie das gemacht?«, fragte das kleine Mädchen und riss seine grünen Augen noch weiter auf, sodass ihr restliches Gesicht dahinter verschwand.
»Er hatte sich verwählt.«
»Woher wissen Sie das?«
Chris lächelte und sagte nichts. Was sollte sie auch sagen?
»Dauert es noch lange?«, fragte die Mutter des Mädchens, ohne die Augen zu öffnen.
»Hoffentlich nicht.« Das Telefon nahm sein beharrliches Klingeln wieder auf. »Der Arzt hatte heute Morgen einen Notfall«, fuhr Chris lauter fort, um es zu übertönen. »Ein großer Hund, der angefahren worden ist. Dadurch haben sich alle Termine verschoben. Es tut mir Leid«, entschuldigte sie sich auch bei den beiden anderen Wartenden, einem älteren Mann, der einen zitternden Schäferhund an der Schulter trug wie ein Baby, und eine alte Frau mit weißen lockigen Haaren, die ihrer übergewichtigen Perserkatze leise etwas vorsang. Beide wirkten nicht übermäßig beunruhigt. Wahrscheinlich waren sie es gewöhnt zu warten. Dr. Marcus' Praxis florierte und war immer voll. Das war wahrscheinlich der Grund, warum der Tierarzt mit dem jungenhaften Gesicht sie trotz mangelnder Vorkenntnisse und Erfahrung eingestellt hatte.
Chris wusste, dass sie Glück gehabt hatte, den Job zu bekommen, und wollte ihn unbedingt behalten. Was hatte sie sich bloß eben gedacht? Wenn sie nicht vorsichtiger war, würde sie gefeuert werden. Sie musste später unbedingt Emily Hallendale anrufen und sich für ihre Unhöflichkeit entschuldigen. Sie durfte sich nicht so ablenken lassen. Sie konnte nicht jedes Mal zusammenzucken, wenn das Telefon klingelte, und sich auch nicht weigern, dranzugehen. Zögernd griff sie nach dem Hörer. Bitte lass es nicht so sein wie beim letzten Mal, betete sie wie jeden Morgen, bevor sie ihre kleine Souterrainwohnung verließ, um zur Arbeit zu gehen. Bitte lass Tony mich nicht finden. Bitte mach, dass er mich in Frieden lässt.
Doch er fand sie natürlich immer. Und sie wusste, dass er sie nie in Frieden lassen würde. Egal, wie oft sie umzog – viermal im letzten halben Jahr. Egal, wie oft sie ihre Telefonnummer wechselte – schon mindestens ein Dutzend Mal. Trotzdem fand er sie, folgte ihr, belästigte sie zu Hause und an ihrem Arbeitsplatz, bis sie nicht mehr schlafen, sich nicht mehr konzentrieren und selbst die einfachsten Tätigkeiten nicht mehr bewältigen konnte, sodass ihren glücklosen Arbeitgebern letztendlich keine andere Wahl blieb, als sie gehen zu lassen. »Es tut uns Leid«, erklärten sie, wenn die Grenzen ihres Verständnisses und ihrer Geduld erreicht waren. »Wir wissen, dass es nicht Ihre Schuld ist. Aber wir haben hier ein Geschäft zu führen.«
Zunächst hatte sie als Kellnerin in einem auf 50er-Jahre getrimmten Diner gearbeitet. Tony hatte es herausgefunden und angefangen, ihr zu dem Restaurant zu folgen. Während vieler ihrer Schichten saß er stumm an
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