Nur Wenn Du Mich Liebst
Nachbarn, der ihre erstickten Schreie gehört hatte. Vielleicht auch Tony, der ihr die frohe Botschaft persönlich überbringen oder sie ein für alle Mal von ihrem Elend erlösen wollte. »Wer ist da?«, fragte sie vom Sofa und zwang sich aufzustehen. Doch die einzige Antwort war ein erneutes Klopfen. Chris folgte dem Geräusch, ohne sich die verheulten Augen abzuwischen, ohne noch einmal zu fragen, wer dort war, ohne durch das Guckloch in der Tür zu blicken, weil es ihr egal war, wer draußen stand. Okay, dachte sie. Soll geschehen, was geschehen soll. Sie atmete tief ein und riss die Tür auf. Als sie sah, wer draußen stand, stockte ihr der Atem, und die Luft in ihrer Lunge schien zu gefrieren. »Mein Gott«, flüsterte sie. »Oh mein Gott.«
»Kann ich reinkommen?«
Wie in Trance trat Chris einen Schritt zurück.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
Chris nickte, schüttelte den Kopf und suchte verzweifelt, aber vergeblich nach Worten.
»Ich kann nicht lange bleiben. Dad denkt, ich bin bei einer Freundin. Ich kann nicht lange bleiben.«
Chris wischte sich ungeduldig die Tränen aus den Augen. Sie waren ihr im Weg, und sie wollte sich den Blick auf das prächtige junge Mädchen, das vor ihr stand, durch nichts trüben lassen. »Montana«, flüsterte sie kaum hörbar und saugte ihre Tochter mit den Augen auf wie Flüssigkeit durch einen Strohhalm – die langen blonden Haare, die blasse Haut, die Apfelbäckchen, die wunderbaren blauen Augen. Sie war inzwischen eine junge Frau.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte ihre Tochter noch einmal.
»Alles okay«, hörte Chris sich antworten.
Montana schloss die Tür hinter sich, machte jedoch nur ein paar zögerliche Schritte in das Apartment.
»Es ist ein Loch«, entschuldigte Chris sich und stellte sich den Raum aus Sicht ihrer Tochter vor – der altmodische Florteppich in denselben grellen Farbtönen wie das Sofa, der kleine gläserne Couchtisch mit den beiden nicht zueinander passenden Stühlen, die winzige Küchenzeile.
»Es ist okay.«
»Wie hast du mich gefunden?«
»Susan hat es mir gesagt. Ich habe sie heute Nachmittag angerufen. Und sie hat mich zurückgerufen, nachdem sie mit dir gesprochen hatte.«
»Du hast sie angerufen?«
»Barbara war tot. Sie haben gedacht, Dad hätte vielleicht...« Montana hielt inne, schluckte und schlug die Augen nieder, wie um dem intensiven Blick ihrer Mutter auszuweichen. »Niemand wusste, wo du warst.«
»Du hast dir Sorgen um mich gemacht?«
»Wo warst du?«
Chris versuchte den Blick von ihrer Tochter zu wenden, doch sie konnte es nicht, als hätte sie Angst, dass das Mädchen verschwinden könnte, wenn sie sich auch nur für eine halbe Sekunde abwandte. »Willst du dich setzen?«
Montana schüttelte den Kopf und lehnte sich an die Tür.
»Möchtest du etwas essen oder trinken? Wasser?«
»Mir geht es gut«, sagte Montana. »Möchtest
du
vielleicht einen Schluck Wasser?«
Chris nickte und ließ sich auf das Sofa sinken, weil ihre Beine nachzugeben drohten. Sie beobachtete, wie ihre Tochter in der winzigen Küche ein Glas mit Wasser füllte und ihrer Mutter brachte. Als sich ihre Finger kurz berührten, durchfuhr es Chris wie ein elektrischer Schlag, und es bedurfte all ihrer Kraft, sich nicht in die Arme ihrer Tochter zu werfen und ihr süßes Gesicht mit Küssen zu bedecken.
»Wo warst du?«, wiederholte Montana.
Chris schüttelte den Kopf, unsicher, was sie sagen sollte. »Nach der Beerdigung von Susans Mutter bin ich aufs Land gefahren. Ich habe in einem Gasthaus übernachtet, bin den ganzen Tag spazieren gegangen und durch Antiquitätenläden gestöbert...«
»Alleine?«
»Nein. Mit einer Freundin.« Chris fragte sich, wie viel sie ihrer Tochter sagen konnte. Mein Gott, es gab so
viel
, was sie ihr zu erzählen hatte.
»Und deshalb hast du gar nicht mitgekriegt, was passiert ist...«
»Bis vor einer Stunde.« Chris nippte an ihrem Wasser, ohne den Blick auch nur für einen Moment von der schönen jungen Frau zu wenden, die vor ihr stand und ihr Gewicht nervös von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Montana trug Jeans und einen ärmellosen rosa Pulli, ihre Arme waren schlank und gebräunt. Chris dachte, dass sie sich unendlich danach sehnte, diese Arme um sich zu spüren. Montana zog sich einen der beiden Stühle heran und setzte sich.
»Zuerst haben sie gedacht, dass es Dad war.«
»Ich weiß.«
»Aber er war gestern Nacht zu Hause und hat nach Rowdy gesehen.«
»Ist Rowdy krank?«
Montana
Weitere Kostenlose Bücher