Nur Wenn Du Mich Liebst
warteten, von den Pinselstrichen der Erfahrung vollendet zu werden. Was tat sie unter all diesen Menschen, zu denen sie ganz offensichtlich nicht gehörte? Was für eine Verrenkung ihres Egos hatte sie dazu getrieben, einen Universitätsabschluss anzustreben, der letztendlich nutzlos war? Ich werde eine abgeschlossene Ausbildung vorweisen können, erinnerte sie sich, und das Gefühl der Befriedigung genießen, eine Aufgabe gut erledigt zu haben.
Und wer wollte wissen, ob sich ihr Examen in englischer Literatur nicht doch noch als nützlich erweisen sollte? Vicki drängte sie ständig, mit ihrem Mann über einen Job bei einer seiner Zeitschriften zu sprechen. Wenn sie ihr Diplom in der Tasche hatte und die Kinder irgendwann den ganzen Tag in der Schule waren, würde sie Jeremy Latimers wachsendem Imperium vielleicht doch noch einen Besuch abstatten.
»Das wichtigste Ziel kirchlicher Dramen im zwölften Jahrhundert war nicht die Erziehung der Massen, sondern die Erschaffung erbaulicher Werke der Frömmigkeit und Weisheit. Die Verwendung verschiedener poetischer Formen und literarischer Genres sowie die klassischen Anspielungen deuten auf ein hohes Maß literarischer Verfeinerung hin.« Professor Currier sah von seinen Notizen auf und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. »So weit, so gut. Bis zum nächsten Freitag schreiben Sie mir bitte einen Vergleich der Dibgy- mit der Fleury-Version von
The Conversion of St. Paul
, Länge 5000 Wörter. Ich werde keinerlei Aufschub gewähren, und die Benotung des Referats wird 25 Prozent ihrer Semesternote ausmachen. Frauen mit großen Brüsten«, fuhr er zwinkernd fort, »haben natürlich automatisch bestanden.« Damit verstaute er seine Notizen in seiner abgewetzten Aktentasche und ließ die Schlösser zuschnappen. »Das war's.« Sein breites Lächeln schien seine Kahlköpfigkeit noch zu betonen. »Vorlesung beendet.«
Ein paar Studenten lachten, andere kicherten nervös, während sie ihre Sachen einpackten und den Raum verließen. Nur Susan blieb sitzen, mühsam nach Luft schnappend und unfähig, sich zu rühren.
»Probleme, Mrs. Norman?«, fragte Professor Currier.
Susan schüttelte den Kopf, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Tränen brannten in ihren Augenwinkeln, als wäre sie geohrfeigt worden. Was war bloß mit ihr? Warum stand sie nicht einfach auf und ging?
»Ist irgendetwas, Mrs. Norman?«, bedrängte Ian Currier sie.
Susan hob langsam den Blick und richtete ihn in die ungefähre Richtung des Professors, sorgfältig darauf bedacht, ihn nicht direkt anzusehen. Denn wenn sie ihn ansah, könnte sie vielleicht etwas sagen, was sie später bereuen würde. Schließlich war er ihr Professor, der Mann, der entschied, ob sie das Seminar bestand und den heiß begehrten Abschluss bekam.
»Susan?«
Jetzt ist mein Name an sich schon ein Problem geworden, dachte Susan und wollte weglaufen und sich verstecken, wie sie an jenem Nachmittag am See vor den gemeinen Hänseleien ihres Bruders geflohen war. Vermeidung – ihre spontane Reaktion auf Unannehmlichkeiten jedweder Art, gefolgt von einer versöhnlichen Geste. Wut war eine riesige Energieverschwendung. Die meisten Probleme ließen sich mit ein paar leisen, wohlgesetzten Worten aus dem Weg räumen. Und warum war sie überhaupt so aufgebracht? Wegen einer unschuldigen Bemerkung, die erkennbar witzig gemeint gewesen war, die niemand ernst und an der niemand sonst Anstoß genommen hatte. Sie machte, wie man so sagte, aus einer Mücke einen Elefanten, wahrscheinlich weil sie noch gekränkt war von Professor Curriers vorheriger Bemerkung über ihr Gewicht, die sie bestimmt auch falsch gedeutet hatte. Sie war viel zu empfindlich, was wahrscheinlich an ihrer Müdigkeit lag. Sie musste wirklich unbedingt mehr schlafen.
Susan hörte Schritte, blickte auf und fand das Pult verlassen vor, während Professor Currier schon auf dem Weg zur Tür war. Soll er in Frieden gehen, dachte sie. »Professor Currier«, sagte sie laut.
Als er seinen Namen hörte, blieb der Professor abrupt stehen und drehte sich um. Als sie ihn erreicht hatte, sah er sie direkt an. »Dachte ich mir doch, dass Sie noch etwas auf dem Herzen hatten«, sagte er abwartend.
Er ist gar nicht so viel älter als ich, dachte Susan, strich ihr Haar hinter die Ohren und versuchte zu entscheiden, was sie eigentlich sagen wollte. »Ich fand Ihre Bemerkung ziemlich unangemessen«, begann sie und dachte:
Verdammt, viel zu allgemein und vage.
»Welche Bemerkung
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