Nuramon
meisten Bewusstlosen starben nach einigen Wochen, aber ich habe auch von einem Mann gehört, der noch Jahre weiteratmete. Die Familie zerbrach fast daran, und schließlich verabreichten sie ihm ein sanftes Gift.«
Borugar starrte eine Zeit lang stumm ins Leere, dann nickte er langsam. »Was würdest du tun?«, fragte er den Hofmedikus. Dieser atmete tief durch, dann sagte er: »Lasst sie sanft einschlafen. Das ist nicht mehr deine Tochter, Herr. Es ist nur noch ihr Körper.«
»Sei still!«, schrie Nerimee und sprang auf. Die Stimme seiner Tochter weckte Nuramon aus der Ratlosigkeit. Er musste an seine Suche nach Noroelle denken und an all die Hindernisse, die er damals gemeinsam mit Farodin und Mandred überwunden hatte. Er war bereit gewesen, alles zu opfern. Und als Nuramon über das Leid und die Mühen auf dem Weg zu Noroelle nachdachte, entsann er sich wieder des Traumbildes, das ihm eben in der Bewusstlosigkeit erschienen war. Dort war er auf der Suche nach Noroelle gewesen, und dann hatte er festgestellt, dass er sich geirrt hatte und eigentlich auf der Suche nach Daoramu war. Er würde auch diesmal alles in die Waagschale werfen; jeden Weg gehen, der nötig war, und jeden Feind, der sich ihm in den Weg stellte, niedermachen. Er würde Daoramu retten, ganz gleich, wie lange es dauern mochte.
So wandte er sich an Rargu und sagte: »Wenn das dein Rat an den Fürsten ist, dann brauchen wir deine Stimme nicht mehr.«
Der Hofmedikus nickte ihm zu. Es lag kein Zorn in seiner faltigen Miene, sondern Mitleid. »Herr, glaub mir«, sprach er mit sanfter Stimme zu Borugar. »Es wird deine Familie zerreißen.«
Borugars Blick wanderte zu Nuramon. »Kannst du sie heilen?«, fragte er mit fester Stimme. Es war wie die Frage eines Feldherrn an seinen Schwertfürsten, ob er diesen Hügel, dieses Tal oder diese Stadt einnehmen konnte. Und Nuramon hatte diese Frage oft gehört und oft bejaht. Diesmal aber sagte er: »Ich weiß es nicht. Was aber, wenn du sie jetzt aufgibst und ich später herausfinde, dass es eine Möglichkeit gegeben hätte, sie zu retten? Dir muss klar sein, dass ich nichts unversucht lassen werde. Ich werde jeden Weg gehen, selbst wenn mein Verderben darauf lauert.«
Oburgal, der Ahnenpriester, trat nun näher. Der Greis hatte sich zurückgehalten. Nun aber nahm er sich das Wort. »Wenn ihr Geist sich vom Körper gelöst hat, nimmst du ihr mit jedem Augenblick, den dieser Körper weiterlebt, den Weg ins Jenseits. So entstehen ruhelose Seelen. Wenn der Körper sie zu lange zurückhält, könnte sie den Weg zu den Ahnen bald nicht mehr finden.«
»Borugar«, sagte Nuramon. »Das Glück oder aber die Verzweiflung hängen in so vielen Leben an einer einzigen Entscheidung. Hör auf mich! Ich habe es oft genug erlebt.«
Doch Borugar, der seine schluchzende Frau an sich drückte, schüttelte den Kopf. »Aber was, wenn ihre Seele leidet? Was, wenn Oburgal recht hat?«
Der Ahnenpriester nickte und machte einen Schritt auf Nuramon zu. »Seit Generationen vertrauen die Herren von Yannadyr auf den Rat der Ahnenpriester.«
»Ohne Ahnen keine Priester«, erwiderte Nuramon. »Ohne Verwandtschaft keine Ahnen.« Er starrte in die grauen Augen des alten Mannes und wusste, dass die Ahnenpriester keine eigene Macht in Händen hielten. Sie konnten ihn nicht verdammen oder zu einer Strafe verurteilen. Ihre Macht mussten sie indirekt ausüben, indem sie die Entscheidungen des Volkes oder die der Herrschenden beeinflussten. Falls es Nuramon gelang, Borugar zu überzeugen, würde der Priester sich fügen. So wandte er sich an seinen Schwiegervater und sagte: »Überlass es uns. Mir und Nerimee. Wenn du mir schon nicht vertraust, dann vertrau deiner Enkelin.«
Borugar schaute in das verweinte Gesicht Nerimees, dann fasste er Jaswyra an den Schultern, löste sie von seiner Brust und blickte sie fragend an. Die Fürstin schaute stumm zu Daoramu hinab, dann zwischen Nerimee und Nuramon hin und her. Schließlich sagte sie: »Ich könnte nicht damit leben, nicht alles versucht zu haben.«
Borugar drückte seine Frau an sich, dann schickte er die Heiler, den Ahnenpriester und sogar die Wachen fort und kniete neben seiner Tochter nieder. Als Nuramon, Jaswyra und Nerimee es ihm gleichgetan hatten, sagte er: »Es ist mir egal, wie lange es dauert. Tut alles, was ihr vermögt.«
Nuramon strich Daoramu über die Wange, dann legte er seine Hände an ihren Kopf und sandte seine Sinne aus. Er suchte nach Regungen, doch es war, als
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