Nyx - House of Night: Das Begleitbuch (German Edition)
der zwanziger Jahre aus dem Boden. Bauten wie der neogotische
Philtower
mit seinen Wasserspeiern oder das elegante, mit schmiedeeisernen Ornamenten verzierte
Philcade Building
spiegeln diese extravaganten Zeiten wider. (Beide Gebäude sind nach Waite Phillips benannt.) In einer ganzen Reihe der Bauten sind Elemente des frühen Art déco zu sehen – sogar in so vielen, dass Tulsa in der Vergangenheit als „Terra Cotta City“ bekannt war; nach den Terracotta-Fliesen des Art déco mit seinen geometrischen Zickzack-Mustern, die Fassaden wie Innenausstattung der Gebäude prägen. Heute findet man in Reiseführern wie Elaine Warners
Insiders‘ Guide to Tulsa
(2010) spezielle Innenstadt-Rundgänge zum Thema Art déco.
Doch nach dem Börsenkrach von 1929 änderte sich in der Architektur der Geschmack. Das Union Depot von Tulsa stammt aus dem Jahr 1931 und ist ein Beispiel für den sogenannten PWA-Art-Déco-Stil (nach der „Public Works Administration“). Seine strengen Linien verkörpern Ruhe und Stabilität, ja fast schon Ernst, und nicht mehr strahlende Extravaganz – aber die Fassade zeigt immer noch die klassischen Zickzack-Muster des Art déco. Allein die Größe des Baus verkörpert Beständigkeit, aber sie war auch nötig, denn in seiner Glanzzeit war das Union Depot für drei getrennte Eisenbahngesellschaften und deren Passagiere zuständig. Nachdem es 1967 seine Tore geschlossen hatte, stand das stolze Gebäude jahrelang leer. Plünderer entwendeten die Inneneinrichtung und das allmählich verwitterte Dach stürzte ein.
An diesem Punkt weicht die Version der Casts von der tatsächlichen Geschichte Tulsas ab. Heute ist das vollständig renovierte Union Depot die Heimat der eindrucksvollen
Oklahoma Jazz Hall of Fame
und des
Tulsa Symphony Orchestra
. In der H OUSE OF N IGHT -Reihe steht es jedoch immer noch leer. Auf Zoey wirkt es in
Betrogen
„als müsste es in Gotham City stehen.“ 63 In
Versucht
beschreibt Stevie Rae seine Architektur als Mischung aus „
Blade Runner
und
Amityville Horror“
.
Indem sie dem Union Depot eine neue Geschichte geben, verfolgen die Casts eine Reihe von Zielen. So ist ein elegantes und ehrwürdiges aber verwüstetes Gebäude im Dunkeln zunächst einmal eine ideale Gruselkulisse. Hier stellt sich niemand freiwillig für eine Mitternachtsführung in die Schlange. Die Stadt ist wahrscheinlich zu jung, um den uralten, stürmischen Mooren aus
Wuthering Heights
(dt.
Sturmhöhe
, von Emily Brontë, Anm. d. Übersetzers) oder dem legendären Schloss des Graf Dracula etwas Vergleichbares entgegensetzen zu können, doch die Beschreibungen des Depots tragen sehr zu dem Eindruck bei, dass Tulsa – besonders Tulsa bei Nacht – eine uralte, düstere Stadt der Gespenster ist, die auch aus einem klassischen Schauerroman stammen könnte.
Besonders das selbstgewählte Exil der roten Jungvampyre wird durch die Wahl des Union Depots, unter dem sie leben, zum faszinierenden Erzählstrang. Das verlassene Depot verkörpert Tod, Verfall und eine Wandlung zum Bösen – und genau diese Assoziationen verbinden Leser zunächst mit den verstorbenen und nunmehr verwandelten roten Jungvampyren. Das Schauermotiv der unguten Entwicklung wirkt auf Leser aus Tulsa geradezu doppelt stark, denn sie wissen, dass das Depot nicht tatsächlich in dem beschriebenen schlimmen Zustand ist. Das vernachlässigte Depot wirkt also ebenso verstörend widernatürlich, wie die Entstehung und das dunkle Verlangen der roten Jungvampyre verstörend und widernatürlich scheint.
Und schließlich wird das Union Depot, weil es leer steht, frei für besondere Ereignisse der Romanhandlung. Eine der dramatischsten Szenen, die sich dort abspielen, stammt aus dem fünften Band,
Gejagt
: Nicole, die Anführerin der bösartigen roten Jungvampyrre, setzt gemeinsam mit ihrem Gefolge Stevie Rae auf dem Dach fest, wo sie in der Morgensonne zu verbrennen droht. Rephaim, der Rabenspötter, der ihr sein Leben schuldet, rettet sie. Die bedrohliche Kulisse auf dem Dach des Depots mit seinen dunklen Türmen untermalt geradezu ideal den ruchlosen Betrug, den anschließenden Mordversuch und die spektakuläre Rettung.
Diese Szene hätte so nicht stattfinden können, wenn das Depot in der Welt der Casts auch restauriert worden wäre. Selbst wenn Angestellte und Besucher der
Oklahoma Jazz Hall of Fame
und des
Tulsa Symphony Orchestra
auf wundersame Weise nichts davon mitbekommen hätten, dass rote Vampyre in den Tunneln unter ihren Füßen leben,
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