Nyx - House of Night: Das Begleitbuch (German Edition)
entfernt. Dort traf ich Alan Mac au Halpine, einen Tattookünstler, der eigentlich eher ein Schamane ist als so ein moderner Tintentyp (auch wenn Alan selbst das nicht so sagen würde – echte Schamanen tun das selten). Ich erzählte ihm ausgiebig von der starken Bindung, die ich zu meinem Erdzeichen hatte und er sprach von dem irischen Mythos der Stiere. Während er mir die uralten Geschichten erzählte, konnte ich mir endlich mein eigenes Tattoo vorstellen: die Figur eines Stieres und im Inneren des Tieres die Gestalt einer Göttin.
Ich bat Alan, das Tattoo für mich zu entwerfen und während er zeichnete und mich anschließend drei Stunden lang tätowierte, lauschte ich dem Singsang seiner Stimme, die von den Stieren und längst vergangenen Zeiten berichtete. Es waren Alans Geschichten, die mir den Weg zu einer Mythologie für das H OUSE OF N IGHT öffneten, die in einer Zeit noch vor Nyx spielt – die archaisch und wild und unzivilisiert ist – und die Licht und Finsternis in ihrer reinsten Form verkörpert. Während ich tätowiert wurde, zog ich Vergleiche mit diesem Vorgang zu einem Stammesritus – und der Vergleich schien mir nicht so weit hergeholt zu sein. Alans Geschichten haben mir dabei geholfen, der Religion, die ich anschließend für die Welt des H OUSE OF N IGHT entwickelt habe, diesen gewissen archaischen Charakter zu geben. Alan erwies mir die Ehre, für die erste Linie meines Tattoos die althergebrachte Technik zu verwenden – er nahm einen angespitzten Stock, den er selbst zugeschnitten hatte, tauchte ihn in Tinte und trieb ihn mir klopfend unter die Haut. Vielleicht trug aber auch die Verbindung aus dem Schmerz beim Tätowiertwerden und der Schönheit von Alans Werk, umwoben von den Geschichten, die er erzählte, zu der Entwicklung bei. Oder vielleicht fühlten sich die Sibh (sprich „Schie“ – die Elfen) zu mir hingezogen, zu der modernen Shenachie, die gerade die uralten Geschichten ihrer Heimat in sich aufnahm. Und so versammelten sie sich in dem kleinen Tätowiererladen mitten in einem irischen Dorf, auf dass manche ihrer Sagen ihren Weg in unsere Welt finden und uns alle mit ihrem Zauber berühren sollten.
An dieser Stelle möchte ich eine kleine Kostprobe der Geschichten geben, die mir Alan an jenem Tag erzählte. Dazu ist es nötig, die Augen zu schließen und tief einzuatmen. Die Luft soll beim Ausatmen ganz sanft entweichen. Die Reise geht nach Irland, zur grünen Insel, und Alan spricht sanft die Worte …
Die Stiere waren Inkarnationen zweier mächtiger Druiden
.
Jeder von ihnen bewahrte die Geister einer Hälfte Irlands. Zu Anfang waren sie Freunde, doch dann stritten sie sich darüber, wer die größeren Kräfte besaß. Sie kämpften Hunderte und Aberhunderte von Jahren in unterschiedlicher Gestalt gegeneinander. Zunächst als zwei Adler, dann als zwei riesige Meeresungeheuer, als zwei mächtige Hirsche, als zwei Krieger, als zwei Gespenster und als zwei riesige Drachen. Und als sie erschöpft waren, verwandelten sie sich in zwei Maden
.
Eine der Maden geriet in das Wasser des Cronn bei Cuailinn und wurde von einer trinkenden Kuh verschluckt. Sie brachte den Dun Cuailinn zur Welt, den braunen Stier von Cuailinn. Dieser Stier von Cuailinn hatte ein dunkles Fell, er war streng und stolz in all seiner jugendlichen Kraft. Er war furchterregend, überwältigend, ungestüm und kraftstrotzend, mit wild bebenden Flanken. Tapfer, brutal, mit breiter Brust und wildgelockter Stirn, der Stirn eines wahren Stiers, schnaubend, mit einem mächtigen Maul und festem Blick
.
Er hatte den Zorn eines Königs und die Wut eines Ungeheuers – den Hornstoß eines Mörders, die Wildheit eines Löwen und ein Brüllen, das nur im Donner seinen Meister fand. Dreißig ausgewachsene Burschen fanden auf seinem Rücken Platz, vom Rumpf bis hin zum Nacken. Ein wahrer Held, und von allen geliebt war der mächtige braune Stier von Cuailinn
.
Die andere Made geriet in den Quell von Connaught und wurde ebenfalls von einer Kuh verschluckt. Sie brachte den Finn Bennach zur Welt, den weißen Stier der Ebene von Ai. Dieser Stier hatte einen weißen Kopf und weiße Hufe und einen roten Körper von der Farbe frischen Blutes, als hätte er darin gebadet oder sich die Brust, den Rücken und die schwere Mähne im roten Sumpf gefärbt. Mit seinem schweren Schweif und der Brust eines Hengstes, seinen eindringlichen Augen einer Kuh, dem Maul eines Lachses und den Schenkeln einer Hirschkuh ist er ungestüm in seiner
Weitere Kostenlose Bücher