O-Män - fast fantastisch
Gerechtigkeit, Beschützer der Schwachen, Retter der Minderbemittelten und so weiter und so fort … Otto kann sich an den Superlativen, welche seine innere Stimme während des Schulwegs absondert, gar nicht satt hören. Er spürt, wie positive Energie ihn durchpulst. Zwar hat er noch kein Outfit, und seine Gadgets sind auch noch nicht vollständig, aber das Wichtigste hat er: Die richtige Einstellung. Er hat seine Entscheidung, ein Superheld zu sein, getroffen, und damit basta! Es kommt ihm so vor, als sei er seitdem um eineinhalb Meter gewachsen. Otto fühlt: Dies ist für ihn ein besonderer Tag! Der erste Tag einer glorreichen Zukunft.
Wachsamen Auges scannt Otto seine Umgebung, begierig nach einem Grund, einschreiten zu müssen. Aber leider, alles ist ruhig in seinem Revier. Der Kater Indie im Haus gegenüber hockt wie jeden Morgen dick und feist am Fenster und sehnt sich nach der weiten Ferne. Ein Müllwagen hält in der schmalen Gasse genüsslich den Verkehr auf, worauf eine aufgebrachte Autofahrerin wild gestikulierend ein Hupkonzert veranstaltet. Tauben turnen auf dem heiligen Leopold aus Sandstein herum und beäugen die Szene. Der Brezel-Mann in der Bäckereiauslage glänzt in friedlichem Goldbraun vor sich hin, während der alte Herr Neumann rasselnd das Sicherheitsgitter vor seinem Laden hochzieht. Die Straßenbahn rauscht vorbei, aus offenen Fenstern dringen Radiogedudel und Kaffeeduft. In der Buchhandlung des Herrn Kurt ist es noch dunkel. Im Haus Rotensterngasse Nummer vier gießt irgendjemand seine Balkonblumen und wässert Otto gleich ein bisschen mit. Von Professor Schläfrich und seinen Dackeln ist nichts zu hören und zu sehen. Umso besser! Aus einem Gully steigen die sommerlichen Gerüche der Stadt. Alles ist wie immer, nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Kann es sein, dass auch das Böse spürt, dass ihm ein neuer, ein übermächtiger Gegner heranwächst? „So wird es wohl sein!“, denkt Otto, aber er lässt sich durch die vermeintliche Ruhe nicht etwa einlullen oder gar leichtsinnig alle Vorsicht fahren. Nein! Otto weiß genau, das Böse und Gemeine wartet nur darauf, es ihm zu zeigen.
Reschen Schrittes marschiert Otto durchs Schultor und wirft dem Schulwart einen gütigen Blick zu. Dem ist das herzlich egal, er bohrt seelenruhig weiter in der Nase. Beschwingt läuft Otto die Treppe hinauf, und als er die Klasse betritt, weiß er: „Heute ist nicht gestern!“ Nein, ganz im Gegenteil, heute ist alles andere als gestern! Heute ist offenbar „Gegenteil-Tag“! Blitzschnell hat Otto die Situation erfasst. In der ungewohnten Rolle der Klassendeppen, die routinemäßig vor Unterrichtsbeginn gepiesackt werden und sehr oft Otto Odysseus Ondruschka heißen, befinden sich heute zwei Figuren, mit denen aber wirklich keiner gerechnet hätte. Es sind – Cheyenne Blue und der Schüler Pfitzner! Ausgerechnet! Eine ungewöhnliche Situation, aber sehr geeignet für Otto, sich in der Rolle des schüchtern-schusseligen Musterschüler-Playboys zu üben, den er von nun an nach außen hin geben wird. Damit nur ja kein Verdacht auf ihn fällt, er könnte unter Umständen irgendetwas mit O-Män zu tun haben. Mit dem berühmten Superhelden O-Män, von dem man in nächster Zeit noch viel, noch sehr viel hören wird!
Interessiert verfolgt Otto, wie sich fast die ganze Klassenbelegschaft über Cheyenne Blue und den Schüler Pfitzner lustig macht. Er tritt näher und fragt den rotgesichtigen Waldi Eschbacher: „Was ist denn los?“
„Die sind, glaub ich, über Nacht verrückt geworden!“, wiehert Waldi vor Lachen. „Faseln irgendwas von Tentakeln, verspeisten Hundefüßen, außerirdischen Schleimmonstern und sonstigem Blödsinn daher. Wer glaubt denn so was?“
Otto macht geschickt gute Miene zum bösen Spiel, obwohl in seinem Kopf eine Alarmsirene anhebt. Könnte das Böse bereits seinen schleimigen Kopf erhoben haben? „Ja, wer glaubt denn so was?“, lächelt er mokant. Die Alarmsirene wird noch eine Spur lauter, als der Schüler Pfitzner brüllt: „Na, dann geht doch in die Rotensterngasse und läutet bei ‚Hr. Prof. Schläfrich‘ an, wenn ihr so mutig seid, ihr Pfosten!“
„Hr. Prof. Schläfrich?“ Rotensterngasse? Verspeiste Hundefüße? Otto horcht auf. Was ist da los?
Cheyenne Blue lässt beifällig eine Kaugummiblase zerplatzen. „Na genau, ihr Pfosten!“, wiederholt sie knautschend. „Der Pfitzi-Hase hat es ja gefilmt, mit seinem Handy!“
„Und wo ist der Handyfilm, na?“, kreischt
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