Obduktion
Schmerz und Unbehagen zwang er sich dazu, sich vornüberzubeugen und die Handflächen flach auf den Boden zu legen. Dann machte er sich auf ins Badezimmer, während er über die Kinder in seinem Albtraum nachdachte. Diese neue Qual überraschte ihn nicht. Die Ursache der aktuellen Angstzustände, der wiedererwachten Schuldgefühle und der drohenden Depression war ein Kind. Sein eigenes, um genau zu sein. John Junior – JJ, wie er und Laurie ihn nannten. Das Baby war im August zur Welt gekommen, ein paar Wochen früher
als erwartet. Aber trotzdem waren sie bestens vorbereitet gewesen. Besonders Laurie. Sie hatte die ganze Geschichte locker weggesteckt. Er dagegen war nach der fast zehnstündigen Entbindung so erschöpft gewesen, als hätte er das Kind selbst zur Welt gebracht. Obwohl er schon bei der Entbindung seiner beiden Töchter dabei gewesen war, hatte er ganz vergessen, was für eine nervenaufreibende Erfahrung eine Geburt war. Er war sehr erleichtert, dass Mutter und Kind wohlauf waren und sich in Ruhe erholen konnten.
Im ersten Monat hatten sich die Dinge ganz gut entwickelt. Laurie hatte Mutterschaftsurlaub und genoss ihr Mutterglück trotz JJs nächtlicher Störungen. Jacks Sorge, das Kind könnte einen genetischen Defekt oder eine Erbkrankheit haben, verflüchtigte sich. Er hatte Laurie nie eingestanden, dass er nach der Entbindung zum Kinderarzt geeilt war, um ihm über die Schultern zu schauen.
Panisch hatte er kontrolliert, ob das Gesicht des Kindes Anzeichen für das Downsyndrom aufwies, und seine Finger und Zehen gezählt. Er war sich nicht sicher, ob er mit einem behinderten Kind zurechtkommen würde. Schon wegen des Schicksals seiner beiden Töchter fühlte er sich schuldig. Mit der Vorstellung, noch ein Kind in die Welt zu setzen, hatte er lange gerungen, ebenso wie mit der Frage, ob er die Elternschaft mit der ganzen Verantwortung und in all ihrer Verletzbarkeit noch einmal riskieren konnte. Eigentlich hatte er gar nicht wieder heiraten wollen. Ohne Lauries unerschütterliche Geduld und unermüdliche Unterstützung hätte er es niemals gewagt. Doch ganz tief in seinem Inneren konnte sich Jack nicht von dem Gefühl freimachen, dass es sein Schicksal war, die Menschen, die er liebte, ins Verderben zu stürzen.
Er nahm seinen Bademantel vom Haken hinter der Badezimmertür und schlich hinüber in JJs Zimmer. Sogar
in der Dunkelheit konnte er noch das übertrieben dekorierte Kinderzimmer erkennen. Das hatte er seiner Schwiegermutter Dorothy Montgomery zu verdanken, die für das ersehnte und fast schon nicht mehr für möglich gehaltene Enkelkind alle Register gezogen hatte.
Das Babyzimmer wurde sanft von einigen Nachtlichtern über den Fußleisten erhellt. Zögernd näherte sich Jack der weißen, bestickten Stubenwagen. Das Baby aufzuwecken war das Letzte, was er wollte. Es nach dem letzten Füttern wieder zum Einschlafen zu bringen, war schwer genug gewesen. Jack konnte nicht viel erkennen, weil der Schein der Nachtlichter kaum bis in die Tiefen des Kinderbettchens reichte. Das Baby lag auf dem Rücken, seine Hände waren zu den Seiten im 45-Grad-Winkel abgespreizt. Seine Finger waren über den Däumchen geballt. An der Kinderstirn glänzte ein wenig Licht. Die Augen waren im Schatten verborgen, aber Jack wusste, dass unter ihnen dunkle Ringe waren – sie gehörten zu den frühen Anzeichen seines Problems. Der dunkle Hautton hatte sich langsam im Verlauf einiger Wochen herausgebildet und weder Jack noch Laurie hatten es bemerkt. Dorothy war es schließlich gewesen, die sie darauf aufmerksam gemacht hatte. Nach und nach kamen andere Symptome zum Vorschein. Das, was der ahnungslose Kinderarzt anfangs noch »Empfindlichkeit« genannt hatte, entwickelte sich rasch zur Ursache schlafloser Nächte für den Stapleton-Haushalt.
Als schließlich die Diagnose kam, fühlte sich Jack, als ob ihm alle Luft abgeschnürt worden wäre, als ob ihn ein Baseballschläger voll in den Magen getroffen hätte. Das Blut wich schnell aus seinem Kopf, dass er sich an den Armlehnen des Stuhls, auf dem er saß, festklammern musste, um nicht zu Boden zu sinken. Seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet.
Seine Angst, dass ein Fluch auf allen lag, die er liebte, besonders auf den Kindern, war frisch und lebendig. Man hatte bei John Junior ein Neuroblastom diagnostiziert, eine Erkrankung, die für fünfzehn Prozent aller Krebstode bei Kindern verantwortlich war. Und es kam noch schlimmer. Der Krebs hatte
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