Obduktion
Stunden in dem Laden. Seine wütende Frau, die ihn verdächtigte, sie zu hintergehen und im Stich zu lassen, brachte ihn schließlich dazu, zum Hotel zurückzukehren. Als er endlich dort eintraf, lag sie ihm gnadenlos in den Ohren und hielt ihm vor, sie hätte schließlich auch entführt werden können. Im Nachhinein dämmerte es Shawn, wie segensreich ein solcher Ausgang gewesen wäre. Das hätte die Abwicklung der Scheidungsformalitäten ein Jahr darauf sehr vereinfacht.
Was Shawn so lange im Laden gehalten hatte, war im Grunde eine Gratislehrstunde in ägyptischer Gastfreundschaft. Und was als Diskussion mit dem Eigentümer über die Echtheit der Keramik begonnen hatte, entwickelte sich über viele Gläser Tee hinweg zu einer fesselnden Diskussion über den großen Markt geschickt gefälschter ägyptischer Antiquitäten. Zwar bestand der Ladenbesitzer Rahul darauf, dass es sich bei der Keramik um eine echte Antiquität handelte, aber er war trotzdem bereit, ein paar Tricks des Gewerbes preiszugeben. Als er erfuhr, dass Shawn ein Archäologe war, erzählte er ihm von dem florierenden Handel mit gefälschten Skarabäen. Den geschnitzten Glücksbringern, die einen alten ägyptischen Dungkäfer darstellen, sagte man die Fähigkeit nach, sich spontan vollständig regenerieren zu können. Dank der unerschöpflichen Quellen für Knochen aus alten oberägyptischen Begräbnisstätten konnten begabte Schnitzer die Skarabäen kopieren. Dann verfütterten
sie sie an verschiedene Haustiere, um die Schnitzereien mit einer überzeugenden Patina zu versehen. Rahul war überzeugt, dass es sich bei vielen der pharaonischen Skarabäen in den führenden Museen der Welt um solche Fälschungen handelte.
Nach ihrer langen Unterhaltung hatte Shawn den Topf schließlich gekauft, um sich auf diesem Wege bei Rahul für dessen Gastfreundschaft zu bedanken. Nach ein wenig freundschaftlichem Gefeilsche zahlte ihm Shawn schließlich die Hälfte dessen, was er ursprünglich verlangt hatte. Aber selbst dabei dachte Shawn immer noch, dass die zweihundert ägyptischen Pfund ungefähr das Doppelte dessen waren, was er normalerweise gezahlt hätte. Jedenfalls so lange, bis er wieder in New York war. Als er die Keramik seiner Kollegin Angela Ditmar, der Leiterin der Ägyptenabteilung, präsentierte, bekam er einen Schock. Angela stellte fest, dass es sich bei dem Topf keineswegs um eine Fälschung, sondern vielmehr um einen echten, über sechstausend Jahre alten Fund handelte. Schließlich überließ Shawn die Keramik der Ägyptenabteilung als Schenkung, die damit das restaurierte Objekt in der Dauerausstellung ersetzte. So wollte er die Schuldgefühle loswerden, die ihn plagten, weil er unwissentlich dieses wertvolle Objekt aus Ägypten herausgeschafft hatte.
Shawn schlenderte tiefer ins Herz des Basars. Über die engen Gassen gespannte Teppiche und Markisen hielten zuverlässig das Sonnenlicht fern.
Penetranter Geruch von Innereien umhüllte ihn, als er an Schlachterläden vorbeilief, in denen abgehäutete Lämmer hingen, komplett mit Schädeln, Augäpfeln und Fliegen. Dieser Geruch wurde bald abgelöst vom Duft der Gewürze, dann dem Röstaroma arabischen Kaffees. Der Souk war ein Angriff auf die Sinne – im Guten wie im Schlechten.
Inmitten der verschlungenen Passagen hielt Shawn inne. Er hatte sich verlaufen, so wie schon zehn Jahre zuvor.
Er hielt bei einer Schneiderei an und erkundigte sich bei einem älteren Ägypter mit weißem Scheitelkäppchen und brauner Djellaba nach dem Weg. Ein paar Minuten später betrat er Antica Abdul. Shawn war nicht im Mindesten überrascht, dass es den Laden noch gab. Bei seinem vorherigen Besuch hatte ihm Rahul erzählt, dass das Unternehmen schon seit über hundert Jahren seiner Familie gehörte. Abgesehen von dem fehlenden prädynastischen Topf sah der Laden im Großen und Ganzen genauso aus wie damals. Weil es sich bei den meisten sogenannten Antiquitäten um Fälschungen handelte, ersetze Rahul sie einfach durch andere Stücke aus seinen Quellen, wenn er eine verkauft hatte.
Der Laden schien verlassen zu sein, als Shawn ihn betrat und sich die Schnüre des Glasperlenvorhangs klickend hinter ihm schlossen. Einen kurzen Moment lang fragte er sich, ob Rahul wohl immer noch da sein würde, aber seine Sorge verflog, als der Mann rasch aus einer hinter dunklen Vorhängen verborgenen, kissenbedeckten Sitzecke hervortrat. Mit leichtem Kopfnicken deutete Rahul eine Begrüßung an, während er sich hinter
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