Obduktion
Vitaminzusätzen einmal abgesehen. Darüber gelesen habe ich auch noch nicht viel. Soweit ich weiß, ist das alles Hokuspokus, von ein paar Pflanzen mit pharmakologisch wirksamen Bestandteilen einmal abgesehen.«
»So sehe ich das auch. Meines Wissens basiert alles auf dem Placeboeffekt. Es hat mich auch nie sonderlich interessiert, mehr darüber zu lesen, und noch weniger, es auszuprobieren. Ich glaube, das ist was für Leute, die mehr Hoffnung als Verstand haben, oder für Leute, die sich übers Ohr hauen lassen wollen. Und ganz besonders natürlich für die Verzweifelten.«
»Wir sind verzweifelt«, sagte Laurie.
Jack suchte Lauries Gesicht im Dunkel. Er war sich nicht sicher, ob sie es ernst meinte oder nicht. Ja, sie waren verzweifelt. Das war klar. Aber war ihre Verzweiflung bereits so groß?
»Ich erwarte keine Antwort von dir«, setzte Laurie hinzu. »Ich denke bloß laut. Ich will einfach irgendetwas für unser Baby tun und den Krebszellen nicht so ohne Weiteres freie Bahn lassen.«
Kapitel 2
12:00 Uhr, Montag, 1. Dezember 2008 Kairo (5:00 Uhr, New York City)
S hawn Daughtry ließ den ägyptischen Taxifahrer am Al-Ghouri-Mausoleum halten, dem Grabmal des Mamelukenführers, der im frühen 16. Jahrhundert die Herrschaft über Ägypten an die Osmanen verlor. Shawn war vor zehn Jahren zum letzten Mal hier gewesen mit seiner dritten Frau. Jetzt war er mit seiner fünften Frau Sana wieder hier und genoss die Reise diesmal deutlich mehr als damals. Sana war eingeladen worden, um an einer internationalen Konferenz zur Abstammungsforschung teilzunehmen. Als gefeierte Molekularbiologin mit dem Spezialgebiet Mitochondrialgenetik – auch das Thema ihrer Dissertation – war sie eine der Starrednerinnen der Konferenz. Ihr Honorar schloss auch sämtliche Reisekosten für sie beide ein. Shawn hatte die günstige Gelegenheit genutzt, um Vorkehrungen zum Besuch einer gleichzeitig stattfindenden Archäologenkonferenz zu treffen. Weil es der letzte Tag des Meetings war, ließ er das Abschlussessen ausfallen, um sich einer sehr speziellen Aufgabe zu widmen.
Shawn stieg aus dem Taxi in die brütende, trockene Hitze und überquerte die Al-Azhar-Straße, auf der sich die Fahrzeuge Stoßstange an Stoßstange drängten. Jeder Wagen, jeder LKW, jeder Bus und jedes Taxi hupte, während sich Handkarren und Fußgänger zwischen dem
meist stehenden Verkehr hindurchschlängelten. Der Verkehr in Kairo war eine Katastrophe. In den zehn Jahren seit Shawns letztem Besuch war die Bevölkerung Kairos auf erstaunliche 18,7 Millionen Menschen angewachsen. Shawn schlenderte auf der Al-Mukz-li-Den-Allah-Straße in den schmalen Khan-el-Kalili-Souk. In dem labyrinthischen Basar aus dem 14. Jahrhundert konnte man von Haushaltswaren über Kleidung, Möbel und Lebensmittel bis hin zu billigen Souvenirs alles kaufen. Aber nichts davon interessierte ihn. Er steuerte auf das Viertel der Antiquare zu, wo er nach einem Geschäft mit dem Namen Antica Abdul suchte, an das er sich von seinem letzten Besuch her erinnerte.
Shawn war ein erfahrener Archäologe und mit vierundfünfzig als Chef der Abteilung für Kunst des Nahen Ostens beim Metropolitan Museum of Art in New York auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Obwohl sein Hauptinteresse die biblische Archäologie war, galt er als Autorität für den ganzen Mittleren Osten, für Kleinasien, den Libanon, Israel, Syrien, Jordanien und den Iran. Bei seinem letzten Besuch hatte ihn Gloria, seine frühere Frau, zu diesem Markt geschleppt. Nachdem sie sich in den verwinkelten Gassen verloren hatten, war Shawn über Antica Abdul gestolpert. Eine über sechstausend Jahre alte unbeschädigte Terrakottakeramik, die mit gegen den Uhrzeigersinn gedrehten Spiralen dekoriert war und im staubigen Fenster des Ladens stand, hatte ihn gefesselt. Damals wurde ein fast identisches Stück prominent im Metropolitan Museum ausgestellt, aber die Keramik im Fenster von Antica Abdul befand sich in einem viel besseren Zustand. Das aufgemalte Dekor war hervorragend erhalten, der Topf im Museum hingegen war in lauter Einzelteilen gefunden worden und hatte vollständig restauriert werden müssen. Fasziniert, aber zugleich davon
überzeugt, dass der Topf von Antica Abdul eine genauso clevere Fälschung war wie die vielen anderen angeblich antiken Originale im Basar, hatte Shawn den Laden betreten.
Er hatte zwar nur vorgehabt, einen kurzen Blick auf den Topf zu werfen und dann zum Hotel zurückzukehren, blieb am Ende jedoch mehrere
Weitere Kostenlose Bücher