Obduktion
die Bahre zu legen. Nachdem er Vinnie daran erinnert hatte, das Bestattungsunternehmen darauf hinzuweisen, dass es sich hier um einen ansteckenden Fall handelte, stieg Jack aus dem Astronautenanzug, streifte die Atemmaske ab, zog seinen Schutzoverall aus und marschierte in sein Büro.
Sein erster Anruf galt der Privatschule der Verstorbenen. Obwohl am OCME grundsätzlich jede offizielle Kommunikation über die PR-Stelle laufen sollte, nahm Jack den Verstoß gegen das Protokoll in Kauf. Er wollte ganz sichergehen, dass bestimmte Dinge erledigt wurden, und die Schule zu alarmieren, gehörte bei diesem Fall dazu. Mit dem frischen Bild der Zerstörungskraft der Bakterien vor Augen sprach Jack sehr offen mit dem Schulleiter, der ihm versicherte, dass seine Institution die Tragödie sehr ernst nehmen würde. Der städtische Epidemiologe war schon dort gewesen, und es waren bereits umfangreiche Dekontaminations- und Quarantänemaßnahmen eingeleitet worden. Der Direktor brachte zum Ausdruck, dass er Jacks Sorge und Einsatz sehr zu schätzen wusste.
Jacks nächster Anruf galt Robert Farrell, einem von Kearas Freunden. Nachdem er es mehr als ein Dutzend Mal hatte klingeln lassen, ging der Mann endlich ans Telefon und entschuldigte sich für die Verzögerung. Aber sein Tonfall änderte sich, als Jack sich als Gerichtsmediziner vorstellte.
»Soweit ich weiß, gehörten Sie zu der Gruppe, die gestern Nacht mit Keara Abelard unterwegs war und sie später in der Sankt-Lukas-Notaufnahme abgeliefert hat.«
»Wir hatten den Eindruck, dass sie wirklich krank war«, antwortete Farrell.
»Sind Ihnen die Konsequenzen klar?«
»Die Konsequenzen für uns, weil wir sie zum Rettungsdienst gebracht haben?«
»Ich spreche von den Konsequenzen für Keara.«
»Ich habe gehört, dass sie gestorben ist, nachdem wir gegangen sind.«
Jacks Sinn für Zynismus regte sich. »Wundert Sie das?«
»Natürlich. Sie war jung.«
»Es ist nicht normal, dass junge Menschen sterben.«
»Darum wundere ich mich ja.«
Jack räusperte sich, um nachzudenken. Seine erste Vermutung war, dass sich Farrell unangemessen defensiv verhielt. Als wolle er diesen Eindruck bekräftigen, fügte Farrell schnell hinzu: »Wir haben ihr gar nichts gegeben, falls es das ist, worauf Sie hinauswollen. Sie hat nicht mal Alkohol getrunken.«
»Ich will auf gar nichts hinaus«, erwiderte Jack. Er gratulierte sich selbst dafür, trotz des Befundes der bilateralen Vertebralisdissektion eine größere Anzahl unterschiedlicher Körperflüssigkeiten für die Toxikologie entnommen zu haben. Jetzt fragte er sich, ob sie möglicherweise auf eine bestimmte Weise gestürzt sein könnte, bei der ihr Hals umgeknickt, verdreht oder langgezogen worden war.
»Wie viele von Ihnen begleiteten sie in die Notaufnahme? «
»Wir waren zu dritt.«
Jack nickte.
»Und ihr Jungs hattet getrunken, Keara aber nicht?«
»Ich glaube, ich möchte lieber zuerst mit meinem Anwalt sprechen, bevor ich weitere Fragen beantworte«, sagte Farrell.
Jack stieß nach. »Wie groß war Ihre Gruppe?«
»Wir waren ungefähr ein Dutzend. Männer und Frauen. Wir sind zu dieser Kneipe im West Village gegangen. Können Sie mir nicht einfach sagen, woran sie gestorben ist?«
»Wir arbeiten daran. Hatten Sie mitbekommen, wie sich ihr Verhalten geändert hat?«
»Oh ja. In der einen Minute war sie noch lebhaft, unterhielt sich und trank ihre Cola, und im nächsten Moment nuschelte sie schon ganz undeutlich und wusste nicht mehr, wer und wo sie war. Dann stand sie auf, taumelte ein paar Schritte und fiel hin. Ich habe sie buchstäblich aufgefangen, und deshalb habe ich sie schließlich auch in die Notaufnahme gebracht.«
»Warum haben Sie keinen Krankenwagen gerufen?«
»Um ehrlich zu sein, dachten wir, sie sei betrunken. Ich habe erst später erfahren, dass sie Abstinenzlerin war.«
Vor seinem inneren Auge sah Jack, wie sich die Außenwände von Kearas Vertebralarterien aufpumpten und nach und nach die Blutversorgung ihres Gehirns abdrückten. »Können Sie mir bitte die Namen und Telefonnummern der übrigen Personen nennen, die zur Gruppe gehörten?«
»Ich weiß nicht«, druckste Farrell. »Ich weiß nicht, ob ich noch tiefer in die Sache hineingezogen werden möchte, als ich es ohnehin schon bin.«
»Hören Sie zu, ich werfe niemandem irgendein Fehlverhalten vor, und ich beschuldige Sie nicht im Mindesten. Ich versuche nur, im Interesse der Toten zu handeln, und das ist genau das, wozu Rechtsmediziner da
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