Obduktion
stabile Form hat. Und weil jede unserer Zellen rund hundert Mitochondrien enthält, hat auch jede Zelle hundert Exemplare der mitochondrialen DNA. Das wiederum führt dazu, dass die Wahrscheinlichkeit, selbst aus sehr alten Knochen noch DNA gewinnen zu können, sehr hoch ist.«
»Ich tue jetzt mal so, als hätte ich das verstanden. Glaubst du wirklich, dass du in der Lage wärst, ein wenig dieser kreisförmigen DNA zu gewinnen? Das wäre faszinierend. «
»Das hängt davon ab, wie trocken die Knochen ursprünglich waren und wie trocken sie in dem Kasten geblieben sind. Wenn das Ossuarium noch immer versiegelt
ist, wäre es möglich. Und wenn es möglich wäre, etwas von Marias DNA wiederherzustellen, müsste man wirklich bedauern, dass sie nur einen göttlichen Sohn und keine Tochter hatte.«
Shawn grinste gequält. »Was für ein merkwürdiger Kommentar. Warum eine Tochter und nicht einen Sohn?«
»Weil mitochondriale DNA bei vielen Organismen nur maternal, also nur von der Mutter, an die Nachkommen weitergegeben wird. Die Männer sind sozusagen genetische Sackgassen, mitochondrial gesehen. Sperma enthält wenig Mitochondrien, und das bisschen, was es hat, stirbt nach der Empfängnis ab, während die Eier voll davon sind. Wenn Maria eine Tochter gehabt hätte, die eine Tochter gehabt hätte, und so weiter bis zum heutigen Tag, dann wäre vielleicht noch jemand aus der gleichen mitochondrialen Kette am Leben. Zufällig ist es so, dass die mitochondriale DNA in einem Zeitraum von zweitausend Jahren mutiert, was bedeutet, dass heute, zweitausend Jahre später, statistisch gesehen immer noch eine fünfzigprozentige Chance besteht, dass die Verkettung unverändert geblieben ist.«
»Eigentlich ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass Maria eine Tochter hatte, genauer gesagt, drei.«
»Wirklich?«, fragte Sana. »Ich dachte, sie hätte nur ein Kind gehabt. Jesus. Zumindest habe ich das in der Sonntagsschule gelernt.«
»Ein Sohn ist das katholische Dogma, die Überzeugung der östlichen orthodoxen Kirche, selbst einige protestantische Glaubensgemeinschaften glauben das. Aber es gibt eine Menge Leute, die das anders sehen. Selbst im Neuen Testament gibt es Hinweise darauf, dass es zumindest noch andere Söhne gab, auch wenn einige glauben, dass die Formulierung ›Bruder von Jesus‹ einen anderen Verwandtschaftsgrad beschreibt, zum Beispiel einen
Cousin. Diese Diskussion kam auf, als das Neue Testament vom Aramäischen und Jüdischen ins Griechische und Lateinische übersetzt wurde. Ich glaube, dass mit ›Bruder‹ auch wirklich ein Bruder gemeint ist. Außerdem ist es für mich logisch, dass sie noch mehr Kinder hatte. Sie war eine verheiratete Frau, und wenn sie noch einige Kinder auf dem normalen Weg bekommen hätte, müsste das nichts daran ändern, dass sie das erste auf mystische Weise empfangen hätte. Und das denke ich mir nicht aus. Es gibt eine riesige Menge frühchristlicher Apokryphen, die nicht ins Neue Testament aufgenommen und deshalb auch nicht von der Kirche anerkannt wurden und in denen steht, dass Maria bis zu elf Kinder hatte, eines davon war Jesus. Drei davon waren Töchter. Also gibt es vielleicht da draußen jemanden mit derselben DNA.«
»Da würde dann mein Arbeitsgebiet der mitochondrialen DNA ins Spiel kommen«, sagte Sana, während sie sich vorstellte, wie sie das Thema den wissenschaftlichen Zeitschriften Nature oder Science unterbreiten würde. Aber im nächsten Moment kam sie sich albern vor. Jetzt fing sie schon genauso an wie Shawn mit ihren weit hergeholten Illusionen des Riesenerfolges. Wahrscheinlich war sie sogar schlimmer, denn Shawn hatte in seinem Fachgebiet schon viel mehr Meriten gesammelt.
»Zurück in die Wirklichkeit«, sagte Shawn. »Unser Flug mit Egyptair geht morgen früh um zehn Uhr und landet um halb zwölf in Rom. Wir werden im Hotel Hassler wohnen. Warum sollen wir diesen Coup nicht mit Stil feiern? Was meinst du? Kommst du mit? Wenn alles gut läuft, handelt es sich doch bloß um einen einzigen Tag mehr, und die Belohnung wird riesig sein. Ich bin wirklich wahnsinnig aufgeregt. Und mein größter Ausgrabungserfolg wird sicher auch meine Spendenbeschaffung ankurbeln.«
»Brauchst du mich wirklich oder diene ich nur als Ausstellungsstück und um dir Gesellschaft zu leisten?« Sana brauchte ein wenig Bestätigung, zuckte aber gleichzeitig innerlich über ihre leichtfertig dahingeredeten Worte zusammen. Es war das erste Mal, dass sie ihre Befürchtung
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