Obduktion
aussprach. Hatte Shawn sie nur geheiratet, um sich mit ihrer Jugend zu schmücken, statt sie als ernsthafte Partnerin anzusehen? Vieles in seinem allgemeinen Verhalten ihr gegenüber und auch sein Desinteresse an Sex deutete darauf hin. Dieser Gedanke beunruhigte sie seit einem Jahr zunehmend, und ihr eigener mäßiger beruflicher Erfolg machte alles nur noch schlimmer.
»Ich brauche dich!«, sagte Shawn bestimmt. Wenn er überhaupt verstanden hatte, was sie gesagt hatte, so ging er nicht darauf ein. »Ich könnte das nicht allein durchziehen. Der Knochenkasten wird wahrscheinlich zwischen zehn und fünfzehn Kilo wiegen, das hängt von der Größe und der Dicke der Wände ab, und ich will nicht, dass er mir auf den Kopf fällt. Natürlich könnte ich jemanden anheuern, der mir hilft, aber das möchte ich eigentlich vermeiden. Ich will nicht davon abhängig sein, dass irgendjemand den Mund hält, bis ich alles publiziert habe.«
Erleichtert, dass er ihren verbalen Ausrutscher nicht mitbekommen hatte, ließ Sana eine weitere Frage los: »Wie groß sind die Chancen, dass wir einen Riesenärger bekommen, wenn wir uns heimlich in die Krypta unter dem Petersdom schleichen?«
»Wir schleichen uns überhaupt nicht hinein! Wir müssen ja an der Schweizergarde vorbei, bevor wir überhaupt in den Vatikan hineinkommen. Denen werde ich meine ›Rund-um-die-Uhr-Erlaubnis‹ präsentieren, die ich von der päpstlichen Kommission für religiöse Archäologie bekommen habe. So ist alles wunderbar legal.«
»Du kannst mir also in die Augen schauen und versprechen, dass wir nicht in einem italienischen Gefängnis übernachten werden?«
Shawn beugte sich vor und blickte mit seinen kobaltblauen Augen, ohne mit der Wimper zu zucken, in die Tiefen von Sanas braunen Augen. »Du wirst nicht einmal einen Abend in einem italienischen Gefängnis verbringen. Versprochen! Im Gegenteil. Wenn wir es geschafft haben, dann gibt es ein Abendessen und dazu eine Flasche vom besten Prosecco, den das Hassler im Keller hat.«
»Gut, ich komme mit!«, sagte Sana entschlossen. Sie war plötzlich von dem Gedanken fasziniert, dass sie dieses Abenteuer gemeinsam bestehen würden. Vielleicht hatte das ja auch positive Auswirkungen auf ihre Beziehung. »Aber jetzt gehe ich noch einmal hinunter zum Pool, um die letzten Sonnenstrahlen einzufangen, bevor wir in den Winter zurückkehren.«
»Ich komme mit«, sagte Shawn eifrig. Er war sehr zufrieden. Er hatte schon befürchtet, sie würde ablehnen. Auch wenn er vorgeschlagen hatte, jemanden anzuheuern, um das Ossuarium unter dem Petersdom zu bergen, wusste er doch, dass das gar nicht möglich gewesen wäre. Das Risiko, dass sich die Nachricht über den Fund frühzeitig verbreiten würde, war viel zu groß. Außerdem war sein Plan – auch wenn er Sana etwas anderes gesagt hatte – absolut illegal. Doch ebenso absolut war er davon überzeugt, dass dies sein brillantester Coup werden würde.
Kapitel 7
11:23 Uhr, Montag, 1. Dezember 2008 New York City (18:23 Uhr, Kairo)
A chte bitte darauf, alle Reagenzröhrchen und die Behälter für die Gewebeproben außen zu desinfizie ren«, forderte Jack Vinnie zum Abschluss des Meningitisfalles auf. »Ich meine es ernst. Ich möchte hinterher nicht herausfinden, dass es doch nicht passiert ist, und dann von dir hören, dass du es vergessen hast. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Schon kapiert«, maulte Vinnie. »Vor zwei Minuten hast du mir dasselbe schon mal gesagt. Hältst du mich für bescheuert?«
Als Vinnie Jacks Gesichtsausdruck hinter der Gesichtsmaske aus Plastik erblickte, fügte er schnell hinzu: »Ich ziehe die Frage zurück.«
Jack hatte eigentlich nicht vorgehabt, eine Atemmaske mit HEPA-Filter zu benutzen, aber er ahnte, dass Vinnie sich ohne Maske nicht wohlgefühlt hätte, sein Stolz ihm jedoch verbot, eine anzulegen, wenn Jack es nicht auch tat. So lenkte Jack im letzten Moment Vinnie zuliebe ein. Grundsätzlich verzichtete er lieber auf Atemmaske und Astronautenanzug, weil das Arbeiten mit ihnen umständlich und mühsam war, aber im Verlauf der Autopsie war er froh, seine Meinung geändert zu haben. Die Virulenz dieses speziellen Meningokokkenstammes war beeindruckend, wenn man den Schaden betrachtete,
den er an der Hirnhaut und am Gehirn selbst angerichtet hatte.
Weil sie den Fall im Faulraum bearbeitet hatten und keine anderen Pathologieassistenten in der Nähe waren, half Jack Vinnie dabei, den toten Körper in einen Leichensack und dann auf
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