Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
Rücken, sein Kopf ist zur Seite gefallen, ein Spuckefaden sinkt aufs Kissen.
6
Mutter war eine unerhört häßliche Frau. Für jemanden, der sie nicht gekannt hat, ist das Foto auf dem Kaminsims wahrscheinlich nur lächerlich: grobknochige Bauersfrau mit vorquellenden Augen und Alle-vier-Monate-zum-Friseur-Frisur, die sich angestrengt um eine vornehme Haltung bemüht. Ich lache nicht über das Foto. Sie ist meine Mutter. Allerdings habe ich mich schon gefragt, warum Vater – der, wenn er nicht schläft, bestimmt seine eigene ansprechende Erscheinung auf uralten Fotos anstarrt – sie geheiratet hat. Obwohl: Wenn ich mir das Foto längere Zeit anschaue und an den Mann da oben denke, frage ich mich eigentlich eher, warum sie ihn geheiratet hat.
Auf dem schwarzen Marmor des Kamins steht sonst nicht mehr viel. Ein bronzener Kerzenhalter mit einer weißen Kerze und ein alter Griffelkasten, auf dessen Deckel eine Lakenvelder Kuh gemalt ist. Der ganze übrige Nippes ist jetzt in einem Karton in Henks Zimmer, zusammen mit noch anderem überflüssigen Kram. Henks Zimmer ist zum Abstellraum geworden. Neben seinem Bett, das nie als Gästebett gedient hat, stehen und liegen allerlei Sachen, die er auch noch gesehen und gekannt hat, nichts als gesammelte Vergangenheit, und das noch lebende Museumsstück im Zimmer nebenan hört einfach nicht auf zu atmen. Zu atmen und zu reden. Sogar jetzt, hier, höre ich ihn murmeln. Redet er mit der Nebelkrähe? Mit den Fotos oder den sechs Aquarellpilzen?
Henk und ich wurden 1947 geboren, ich bin ein paar Minuten älter. Zuerst dachte man, daß wir den nächsten Tag (den 24. Mai) nicht erleben würden, aberMutter hat nie an uns gezweifelt. »Frauen sind für Zwillinge gemacht«, soll sie gesagt haben, als sie uns zum ersten Mal anlegte. Ich glaube das nicht; es klingt zu sehr nach einer von diesen Bemerkungen, die sich aus einem größeren Zusammenhang von Ereignissen und Äußerungen herausschälen – denn natürlich ist damals noch vieles andere gesagt worden – und nach einiger Zeit allein übrigbleiben, obwohl sie so vielleicht nie gemacht wurden; höchstwahrscheinlich handelt es sich um eine Verdrehung von irgend etwas, das Vater oder der Hausarzt gesagt haben. Mutter selbst hat vermutlich wenig gesagt.
Ich habe eine Erinnerung, die ich nicht haben kann. Ich sehe ihr Gesicht von unten, hinter einer sanften, weichen Wölbung. Ihr Kinn und vor allem ihre leicht vorquellenden Augen, die nicht auf mich gerichtet sind, sondern auf einen Punkt irgendwo in der Ferne, im Nichts, hinter den Weiden, vielleicht auf dem Deich. Es ist Sommer, und meine Füße spüren andere Füße. Mutter war eine schweigsame Frau, aber sie sah alles. Vater war derjenige, der redete. Und kaum etwas sah. Er brüllte sich durch alles durch.
Jemand klopft ans Fenster. Teun und Ronald stehen im Vorgarten, rufen irgend etwas und fuchteln mit den Armen. Ich gehe zur Tür.
»Helmer! Die Esel sind los!« Das sagt Ronald, und ich kann ihm anhören, daß er es am liebsten hätte, wenn die Esel jeden Tag »los« wären.
»Sie sind noch auf dem Hof.« Das sagt Teun, und ihm höre ich an, daß er auch gehört hat, was sein kleiner Bruder eigentlich am liebsten hätte.
Sie rennen vor mir her und um die Ecke des Wohnhauses. »Langsam!« rufe ich.
Die Esel warten zwischen den Bäumen, etwa fünf Meter vor dem Gatter, das ein kleines Stück offensteht. Der Strick, mit dem das Gatter normalerweise an dem Betonpfosten festgemacht ist, hängt lose herunter. Mir ist schon klar, was passiert ist.
»Tja«, sage ich. »Dann seht mal zu, daß ihr sie wieder auf die Koppel bekommt.«
»Wir?« fragt Ronald.
»Ja, ihr.«
»Warum?«
»Darum.«
Seit die Esel ausgebrochen sind, haben Teun und Ronald Angst vor ihnen. Es ist wie mit einem Wasserhahn, wenn man noch klein ist: eine wunderbare, reizvolle Sache bis zu dem Augenblick, in dem man ihn aufgedreht hat und das viele Wasser, das herausläuft, einen in Panik versetzt und man keine Ahnung hat, wie man das Ding wieder zubekommt.
»Darum?« fragt Teun. »Was heißt das?«
»Das heißt«, sage ich, »daß ich weiß, daß du das Gatter aufgemacht hast, weil du zu faul warst drüberzuklettern, und daß Ronald hinter dir hergegangen ist und daß er das Gatter noch ein Stückchen weiter aufgemacht hat.«
»Ja«, sagt Ronald.
Teun wirft ihm einen bösen Blick zu.
»Na kommt«, sage ich. »Einfach schieben.«
»Schieben? Das Gatter?«
»Nein, die Esel.« Ich gehe langsam zum
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