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Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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macheich. Die Krähe neigt den Kopf leicht zur Seite und versetzt ein Bein. »Weg!« rufe ich, und dann erst schaue ich mich wie ertappt um. Sonderbarer Bauer in vorgerücktem Alter spricht vor offener Haustür laut mit Unsichtbarem.
    Die Nebelkrähe starrt mich verächtlich an. Ich schlage die Vordertür zu. Als es im Flur wieder still ist, höre ich Vater oben etwas sagen. Ich öffne die Tür zur Treppe.
    »Was hast du gesagt?« schreie ich.
    »Eine Nebelkrähe«, antwortet er.
    »Ja und?« schreie ich.
    »Warum jagst du sie weg?« Taub ist er jedenfalls nicht.
    Ich schließe die Treppentür und setze mich wieder an den Küchentisch, auf Vaters Platz, mit dem Rücken zum Vorderfenster. Unbeirrt kaue ich meine Brote und bemühe mich, Vater, der einfach weiterredet, nicht zu verstehen.
    Ich habe innerhalb von zehn Minuten auf allen Stühlen gesessen. Wenn mich jemand sehen könnte, würde er denken, daß ich zu viert zu sein versuche, um nicht allein essen zu müssen.

    Bevor das Holz an die Reihe kam, habe ich die Wände und die Decke des Wohnzimmers weiß gestrichen. Zwei Schichten waren nötig, um die weißen Rechtecke verschwinden zu lassen, die beim Abnehmen von Bildern, Fotos und Sticklappen zum Vorschein gekommen waren. Nachdem ich beim Maler Farbe und einen neuen Pinsel gekauft hatte, war ich zu Praxis gegangen und hatte dort hölzerne Lamellenjalousien gefunden, die genau zu den Fenstern im Wohnzimmer und im Schlafzimmer passen. Offenbar sind die gängigenAbmessungen heute noch die gleichen wie vor hundertfünfzig Jahren. Vor dem Anbringen der Jalousien habe ich die restlichen Pflanzen von den Fensterbänken genommen und auch sie noch auf den Misthaufen geworfen. Jetzt ist es in beiden Zimmern leer und blaugrau, und das Licht fällt in waagerechten Bahnen herein. Morgens ziehe ich die Jalousien nicht hoch, sondern öffne die schmalen Lamellen.

    Mit einer Pappschachtel voll Nägeln, einem Hammer und einer großen, schweren Kartoffelkiste steige ich die Treppe hinauf.
    »Was machst du?« fragt Vater.
    Ich hole nacheinander alle Bilder, Fotos und Sticklappen aus der Kiste und fange an, sie aufzuhängen. »Du findest Nikolaus gemütlich«, sage ich, »aber so wird es auch gemütlich.«
    »Was passiert eigentlich da unten?«
    »Alles mögliche«, sage ich. Um das Schafgemälde herum hänge ich die ersten Fotos auf, aber bald muß ich auf die anderen Wände ausweichen. Gerahmte Fotos von Mutter und Henk, von Hunderttausendliterkühen mit Rosetten, von den Großeltern und mir; Sticklappen zur Erinnerung an unsere Geburt (nicht einer, sondern zwei) und an die Hochzeit von Vater und Mutter. Unter den Bildern sind allein sechs Pilzgemälde, eine richtige Aquarellserie.
    »Was soll das?« fragt Vater.
    »So hast du was zum Anschauen«, antworte ich.
    Als alles hängt, sehe ich mir die Fotografien noch einmal genauer an. Auf einem der Fotos sitzt Mutter auf einem Stuhl mit Armlehnen. Wie eine vornehme Dame hat sie sich darauf niedergelassen; die Beine, sittsam geschlossen, fallen leicht seitwärts, weswegen ihrOberkörper etwas gedreht ist, die Hände hat sie elegant im Schoß gefaltet. Sie schaut den Fotografen auf eine Weise an, die überhaupt nicht zu ihr paßt. Ein bißchen verführerisch und hochmütig zugleich, ein Eindruck, den die seitwärts geneigten Beine noch verstärken. Ich nehme das Foto von der Wand und lege es in die leere Kartoffelkiste, zusammen mit den Nägeln und dem Hammer.
    »Laß sie hier«, sagt Vater.
    »Nein«, sage ich. »Ich nehm sie mit runter.«
    »Sind Mandarinen da?«
    »Möchtest du Mandarinen?«
    »Ja.«

    Ich klappe die Stütze auf der Rückseite des Rahmens aus und stelle Mutter auf den Kaminsims. Dann hole ich zwei Mandarinen aus der Waschküche und bringe sie nach oben. Ich lege sie auf den Nachttisch und gehe ans Fenster. Die Nebelkrähe sitzt immer noch in der Esche, von hier aus gesehen auf gleicher Höhe mit mir.
    »Schaut die Nebelkrähe dich an?« frage ich.
    »Nein«, sagt Vater. »Sie schaut weiter nach unten.«
    Plötzlich weiß ich, was ich noch vergessen habe. Ich gehe die Treppe hinunter und in die Küche. In der Ecke neben dem Schreibtisch steht Vaters Jagdgewehr. Ich hebe es hoch und frage mich, ob es geladen ist. Ich kontrolliere es nicht. Es fühlt sich fremd an in meinen Händen. Früher durften wir es nicht anfassen, später wollte ich es nicht. Ich bringe das Gewehr nach oben und lehne es seitlich an die Standuhr. Vater ist eingeschlafen. Er liegt auf dem

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