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Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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hören. Ich habe ihn von unten nach oben gebracht, und jetzt könnte er sich von mir aus aufs Dach setzen und danach in die höchsten Wipfel der Pappeln am Rand des Hofs, um dann von einem Windstoß weggefegt zu werden, ab in die Luft. Das wäre am besten: wenn er einfach verschwinden würde.
    »Ich krieg die Schale nicht ab«, sagt er.
    Ich versuche die Mandarinen auf dem Nachttisch und seine krummen Finger auf der Decke nicht zu sehen. Allmählich stinkt es hier wirklich, obwohl ich das Fenster immer offenlasse. Wenn er partout nichtverschwinden will, werde ich ihn waschen müssen. Bevor ich die Vorhänge zuziehe, halte ich meine Hände an die Fensterscheibe, um das Lampenlicht abzuschirmen, strecke den Kopf zwischen die Hände und spähe nach der Esche im Vorgarten. Die Nebelkrähe ist weg. Oder ist es nur so dunkel, daß sie sich nicht mehr von den Ästen und vom Abendhimmel abhebt?
    Dann sehe ich jemanden vorbeigehen. An der Straße stehen Laternen, vor jedem Haus oder Hof eine. Insgesamt also sieben. Seit ein paar Wochen stimmt mit meiner Laterne etwas nicht. Sie brennt, aber das ist auch alles; selbst wenn man sich direkt unter sie stellt, erreicht einen das Licht nicht. Die Jalousie im Wohnzimmer ist geschlossen. Bei dieser Dunkelheit draußen kann ich nur sehen, daß jemand vorbeigeht und – jetzt –, daß jemand vor dem Hof stehenbleibt. Ein dunkler Fleck, nur vor dem Hintergrund des Kanals sichtbar. Ich kann nicht einmal erkennen, in welche Richtung der Fleck schaut.
    »Was ist?« fragt Vater.
    »Auf der Straße geht jemand«, flüstere ich.
    »Wer?«
    »Ich kann ihn nicht richtig sehen.« Dann bewegt sich der Fleck und hat plötzlich ein rotes Rücklicht. Ich schaue dem Rücklicht nach, bis es hinter der Fensterlaibung verschwindet. Mit einem Ruck ziehe ich die Vorhänge zu. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. »Na, dann woll’n wir mal«, sage ich und nehme die Mandarinen vom Nachtschränkchen. Ich schäle beide, entferne die bitteren weißen Fäden und reiche Vater einzelne Stückchen. Bald läuft ihm der Fruchtsaft übers Kinn.
    »Lecker«, sagt er.
7
    Ich habe mein Leben lang Angst gehabt. Angst vor Stille und Dunkelheit. Außerdem kann ich schon mein Leben lang schlecht einschlafen. Ich brauche nur irgendein Geräusch zu hören, das ich mir nicht erklären kann, und es ist Essig mit dem Schlafen. Trotzdem habe ich noch nie richtig darüber nachgedacht, was sich nachts draußen abspielt. Natürlich habe ich alles mögliche am Fenster vorbeikommen sehen, früher, obwohl ich wußte, daß das Fenster mehrere Meter oberhalb des Kieswegs war. Schultern, angestrengt hochgezogene Schultern von einem, der gerade an der Vorderfront des Hauses hinaufkletterte. Panthergleich. Manchmal schob sich schon ein Arm auf die Fensterbank. Dann horchte ich auf das Atmen von Henk, der neben mir lag – später stellte ich ihn mir schlafend vor, im Zimmer nebenan –, und die Schultern verschwanden, oder was ich sonst zu sehen geglaubt hatte. Im Grunde wußte ich, daß ich Dinge sah, die ich nicht sehen konnte.
    Und jetzt, nachdem ich die Gestalt auf der Straße gesehen und Vater gefüttert habe, liege ich im Bett und kneife die Augen fest zu. Schlafen, denke ich, schlafen. Aber ich sehe Schafe auf der Weide liegen, stöhnende, wiederkäuende Schafe, graue Flecken auf grünschwarzem Flachland; und Dohlen auf den Pappeln, die Köpfe ins Gefieder gesteckt; und die Esel, die in der Nähe des Gatters dösen und sich dabei mit geneigten Hälsen so gegenüberstehen, daß ihre Köpfe sich zu berühren scheinen; und einsam in einer weit entfernten Ecke der Weiden die wieder abgestellte Bosman-Mühle, die hellgrau schimmert, als die Wolkendecke aufreißt; und eine Gestalt, die bei der Mühle steht und zum Steert hinaufblickt und »N° 40832« liest. Als ich das vor mirsehe, öffne ich die Augen. Kommt das öfter vor, daß jemand in einer Herbstnacht reglos vor dem Hof steht? Und hätte ich das je erfahren, wenn ich nicht zufällig aus dem Fenster geschaut hätte?

    Später sehe ich die Jungen in den Kanus. Der eine, der gesagt hatte, hier sei es zeitlos, bleibt schemenhaft und ist schnell wieder
     weg. Der andere, der rotblonde mit den sonnenverbrannten Schultern, bleibt hängen. Auch er hatte etwas gesagt, aber was, war ohne Bedeutung. Er sah, was
     es zu sehen gab, und er sah mich. Einen Bauern schon recht fortgeschrittenen Alters in einem verschossenen blauen Overall, dessen obere Knöpfe offen
     waren, weil es an diesem Tag

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