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Oben ohne

Oben ohne

Titel: Oben ohne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Heeg
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ist für sie ziemlich anstrengend, aber uns lässt sie das nie merken. Solange ihre Hände noch mitgemacht haben, gehörte zu einem Weihnachtsgeschenk außerdem mindestens ein Paar selbstgestrickte Wollsocken. Als Teenager fand ich das ziemlich dröge, aber heute haben diese Socken einen großen Wert für mich, auch wenn ich sie quasi nie trage. Es ist ein Bild, das sich ganz fest eingeprägt hat in meinem Gedächtnis: Oma sitzt auf ihrem Sofa, und die Stricknadeln klappern. Dabei wirkte sie immer völlig mit sich und der Welt im Reinen, zufrieden, entspannt.
    Aber das wird ein anderes Treffen werden. Tino hat die fixe Idee, das Ganze für die »Nachwelt« aufzuzeichnen. Dazu hat er extra eine Videokamera aufgetrieben, eine Freundin hat sie uns ausgeliehen. Ich glaube, er sieht sich ein wenig als der heldenhafte Chronist einer verschollenen Familiensaga oder so ähnlich.
    »Das mit dem Video wird sie nicht wollen«, habe ich eingewendet.
    Auf einem Familienfoto mit einigen ihrer Enkel hat Oma sich selbst mit der Schere herausgeschnitten, weil sie sich nicht sehen wollte. Sie wird es nie zulassen, dass wir sie filmen.
    »Dann können wir ja nur den Ton laufen lassen«, meinte Tino.
    Wir verlassen die Autobahn am Stadtrand von Stuttgart, kriechen durch ein Wohngebiet mit Tempo dreißig und biegen am Altersheim in die steile Straße ein, die zum Haus hinabführt. Diesen Berg muss Oma jeden Tag hochlaufen, wenn sie einkaufen gehen will. Natürlich bringt auch ihr Sohn Lebensmittel mit, wenn er von der Arbeit zurückkommt. Aber sie ist eine stolze Frau, stolz auf ihre Unabhängigkeit und Mobilität.
    Oma ist inzwischen dreiundachtzig, und seit zwei Jahren hat sie Brustkrebs. Natürlich ist das bei einem so alten Menschen nicht mehr ganz so dramatisch. Aber für mich ist sie in gewisser Hinsicht deutlich mehr als nur die Großmutter. Nach dem Tod meiner Mutter und nachdem ich nicht mehr zu Hause lebte, war sie mein sicherer Hafen. Ich wusste, dass ich jederzeit bei ihr aufkreuzen konnte, sie würde mir zuhören, mich mit Essen versorgen, egal welche Sorgen ich mitbringen würde. Es ist ungeheuer tröstlich, dass sie da ist.
    Wir parken vor Omas Haus, das malerisch an einem Hang liegt. Der Blick geht über eine Streuobstwiese, dahinter beginnt der Wald. Zu großen Familienfesten gehörte ein Spaziergang im Wald. Das fand ich an Stuttgart schon immer toll: Großstadt – und trotzdem so viel Grün. Tino kramt hinten im Auto, um alle Gerätschaften dabeizuhaben. Ich gehe schon vor und klingele an der Gartenpforte.
    Sie erwartet uns wie immer an der Haustüre. Sie ist klein und zierlich, aber sie drückt mich kräftig, als wir im Hausflur stehen. Früher war sie eine sehr hübsche Frau. Auch heute noch achtet sie auf ihr Äußeres. Einmal pro Woche wäscht und legt der Friseur die Haare. Dafür läuft sie gerne den Berg hoch. Wir reden ein wenig über den Garten, der das Haus am Hang komplett umschließt. Es muss natürlich viel gegossen werden. Ich bin immer wieder erstaunt über die Energie, mit der sie in ihrem Alter alles in Angriff nimmt. Bis vor kurzem half sie sogar ehrenamtlich im Altersheim oben am Ende des Berges aus!
    Wie immer ist sie ziemlich hektisch. Schon früher wirbelte sie durch die Küche, während ich auf dem Hocker in der Ecke saß und fasziniert dem chaotischen, aber energiegeladenen Treiben zuguckte. Heute macht sie uns erst mal Kaffee, und natürlich hat sie auch gebacken. Gemeinsam bugsieren wir alles die steile Treppe hoch ins Wohnzimmer, und da lassen wir uns am Esstisch nieder. Ich bin etwas nervös, und auch Tino sieht angespannt aus. Er hat die Kamera bereits auf den Tisch gelegt, doch Oma scheint sie nicht zu bemerken. Der Kaffee wird ausgeschenkt, der Kuchen verteilt, und Tino sagt, dass wir das Gespräch gerne aufnehmen würden, wenn sie einverstanden ist.
    »Nein, das will ich nicht!«
    Ihr Ton ist entschieden.
    Tino bietet an, nur den Ton mitlaufen zu lassen, aber auch das ist ihr zu viel. Keine Aufnahme. Nein, definitiv nicht. Ich habe kurz Bedenken, dass sie nun alles abblasen wird. Tino packt die Kamera wieder ein, und Oma guckt kritisch. Aber dann beginnt sie unaufgefordert zu erzählen, ohne dass wir eine Frage gestellt hätten. Es ist, als ob sie schon lange darauf gewartet hätte, dass sich endlich mal jemand dafür interessieren würde.
    Fast drei Stunden berichtet sie uns aus ihrem Leben, ihrer Jugend in Stuttgart, wo sie bereits als Mädchen viel im elterlichen Geschäft helfen

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