Oben ohne
sich in einigen Serpentinen nach Hinterzarten hochschraubt.
Wir passieren Neustadt, wo sich die Straße in einem letzten steilen Bogen über eine hohe Brücke aufschwingt. Hier oben auf über tausend Meter über dem Meer haben die Parkplätze passende Namen in alemannischer Mundart: »Verschnuferecke« steht da … Bis wir auf die Autobahn Singen–Stuttgart kommen, zieht die Landschaft der kalten Baar an uns vorbei. Hier kommen definitiv noch keine Frühlingsgefühle bei mir auf. Während in Freiburg bereits alles blüht, beherrschen braune Felder das düstere Bild.
Wir sind auf dem Weg zu meiner Oma. Es ist kein gewöhnlicher Besuch, denn Oma soll uns einfach – ihr Leben erzählen. Tino und ich kennen uns schon seit bestimmt sieben oder acht Jahren. So genau können wir es auch nicht mehr rekonstruieren, da wir uns bei einer Veranstaltung des Allgemeinen Hochschulsports kennengelernt haben. Wir sind beide passionierte Radfahrer, und damals waren wir zufällig zusammen in der Gruppe. Wir haben uns bei den Ausfahrten immer gut unterhalten. Und irgendwann hat Tino sich getraut und mich abends angerufen, um sich mal in »zivil« mit mir zu treffen. Es war ein schöner Abend, der immer länger und länger wurde. Zwei Jahre später haben wir dann geheiratet.
Vor einigen Wochen bin ich mit Tino mal wieder ins Gespräch über meine Familie gekommen. Tino, studierter Historiker, wollte tausend Sachen wissen. Von denen ich gelinde gesagt keine Ahnung hatte. Er weiß natürlich schon einiges von meiner Familie, aber das reicht nicht über die Kindheit meiner Mutter hinaus. Weiter zurück habe ich nur bruchstückhaftes Wissen. Seine Fragen waren mir unangenehm. Ich hatte an mich selbst den Anspruch: Mensch, das weiß man doch von seiner eigenen Familie! Klar ist meine Ahnungslosigkeit kein Wunder. Meine Mutter starb, als ich vierzehn war, und danach lief in unserer Familie alles etwas anders. Als die Älteste von uns Kindern kümmerte ich mich viel um meine Geschwister und den Haushalt. Meine Schwester ist sieben Jahre jünger, die brauchte einfach viel. Für den Haushalt hatte mein Vater eine Hilfe organisiert, die für ein paar Stunden am Tag da war. Dennoch blieb einiges an mir hängen – und wenn es nur das Darandenken war. Daneben ging ich aufs Gymnasium und machte Abitur, Freunde und Sport gab es auch noch. Kurz: Ich hatte andere Sorgen, als meinen Vater nach unserer Familiengeschichte auszufragen. Als ich achtzehn war, heiratete mein Vater wieder, ich ging zum Studieren nach Ludwigsburg und Freiburg.
»Warum reden wir nicht mit Oma?«, schlug Tino schließlich vor, als ich ihm nichts mehr erzählen konnte über die Familie meiner Mutter. Ja, warum eigentlich nicht? Ich wäre nicht auf die Idee gekommen. Und ich hatte auch etwas Angst davor. Wie würde Oma reagieren? Von selbst hatte sie nie davon erzählt. Vielleicht will sie gar nicht darüber reden. Vielleicht dringe ich zu sehr in sie ein. Zumal ich zumindest eines sicher weiß: Ein leichtes Leben hatte sie nicht. Davon zu erzählen, das würde ihr sicher wehtun. Außerdem ist sie auch gesundheitlich nicht mehr auf der Höhe. Sie hatte schon mal Darmkrebs, und seit einigen Jahren ist sie an Brustkrebs erkrankt.
Nachdem Tino nicht locker ließ, nahm ich meinen Mut zusammen und rief sie an.
»Oma, ich fände es schön, wenn wir dich besuchen könnten und du Tino und mir mal aus deinem Leben erzählst.«
»Warum denn das?«, fragte Oma sofort.
Ich erklärte ihr, wie es zu dieser Idee gekommen war und dass ich einfach zu wenig wüßte.
Es war kurz still in der Leitung.
»Interessiert euch das wirklich?«
In ihrer zurückhaltenden Art konnte sie es noch nicht glauben. Nachdem ich es ihr versichert hatte, stimmte sie schließlich zu.
Wir besuchen Oma regelmäßig. Alle paar Monate zieht es mich in das kleine alte Haus am Stadtrand von Stuttgart, wo sie mit ihrem Sohn, meinem Onkel, lebt. Die beiden bilden eine eingespielte Wohngemeinschaft. Oma kümmert sich um den Haushalt, mein Onkel sorgt für Haus und Garten. Bis auf die Blumenbeete – die sind Omas Revier. Normalerweise wird bei den Besuchen die ganze Zeit geredet, Oma interessiert sich intensiv für den Werdegang ihrer Enkel. Erstaunlich, wie sie sich alles Mögliche von ihren vierzehn Enkeln immer so merken kann. Sie weiß, was wir alle treiben, wann wer Geburtstag hat und und und. Bei der Vielzahl an Enkeln ist sie grundsätzlich dabei, sich irgendwelche Geschenke auszudenken und zu besorgen. Das
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