Oben ohne
Brustkrebs gestorben war. Sondern auch insgesamt: Ihre Familiengeschichte hatte sie mir bisher immer nur stückchenweise berichtet. In dieser geballten Form damit konfrontiert, hatte ich zum ersten Mal ansatzweise kapiert, dass hier irgendetwas gewaltig schieflief. Und nicht erst seit der Generation von Evelyns Mutter. Aber je mehr ich mich darauf einließ, desto mehr Fragen tauchten auf. Nur für Evelyn schien das alles nicht so dringlich zu sein. Aber ich verstand auch, dass sie sich dieses Thema in gewisser Weise auf Distanz halten wollte. So jedenfalls habe ich damals ihre Antworten im Auto gedeutet: Nerve hier nicht rum, ich habe alles im Griff. Trotzdem war es für mich gerade die Information, dass bereits die Großtante daran gestorben war, die mich wachrüttelte. Auch wenn ich gar nicht kapierte, dass sie den Gendefekt nicht an Evelyns Mutter hatte vererben können – rein technisch gesehen. Aber wie gesagt: Ich hatte einiges noch nicht begriffen.
Zurzeit arbeite ich bei einer Bank in Basel, und der Job ist nicht sehr fordernd. Nach diesem Besuch wühle ich mich an einem besonders ereignislosen Nachmittag durch das Internet und informiere mich zum Thema. Ich stoße schnell auf mehrere Zentren für familiären Brust- und Eierstockkrebs. Das sind Forschungseinrichtungen der Deutschen Krebshilfe, die sich speziell an Frauen wenden, die an der erblichen Variante des Mammakarzinoms erkrankt sind. Oder die aus einer Hochrisikofamilie stammen. Ein passendes Wort, Hochrisikofamilie, das mir sehr zutreffend erscheint für Evelyns Clan.
Ich bewege die Maus an den Rand des Fensters. Diese Einrichtungen sind in Berlin, Bonn, Dresden, Düsseldorf, Hannover, Heidelberg, Kiel, Leipzig, München, Münster, Ulm und Würzburg. Da tut sich also etwas. Auf den Seiten dieser Forschungsstellen finde ich auch weitere Informationen. Etwa fünf bis zehn Prozent aller Brustkrebsfälle haben vermutlich ihre Ursache in einem Gendefekt. Gar nicht so wenig! Man hat bisher zwei Gendefekte identifiziert, genannt BRCA1 und BRCA2 – das Kürzel steht für Breast Cancer –, und es handelt sich um einen »autosomal-dominanten« Erbgang. Was das im Einzelnen heißt, weiß ich aus dem Leistungskurs Biologie nur noch verschwommen. Aber faktisch gilt einfach, dass Evelyn die erbliche Belastung mit einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit von ihrer Mutter geerbt hat. Fifty-fifty, das ist eine ganze Menge! Ich bin beeindruckt.
Und weiter geht’s: Eine Frau, die das Gen oder, genauer gesagt, den Gendefekt vorweist, hat eine rund achtzigprozentige Wahrscheinlichkeit, in ihrem Leben an Brustkrebs zu erkranken (plus zwanzig bis sechzig Prozent Risiko für Eierstockkrebs – als kleine Zugabe quasi). Auch bei der Beschreibung der Risikofaktoren trifft Evelyns Familie gleich mehrfach ins Schwarze, denn bereits eines der nachfolgenden Kriterien reicht aus, um eine Beratung in den Zentren empfehlenswert zu machen:
Familien mit mindestens zwei an Brust- oder Eierstockkrebs Erkrankten (davon eine unter fünfzig Jahren erkrankt).
Familien mit mindestens drei an Brustkrebs Erkrankten.
Familien mit einer an einseitigem Brustkrebs im Alter unter dreißig Jahren Erkrankten.
Familien mit einer an beidseitigem Brustkrebs im Alter unter vierzig Jahren Erkrankten.
Familien mit einer an Eierstockkrebs im Alter unter vierzig Jahren Erkrankten.
Familien mit einer an Brust- und Eierstockkrebs Erkrankten, unabhängig vom Alter.
Seitenweise werden hier die Wenns und Abers erläutert, biologische Fakten heruntergerattert. Schließlich lese ich noch die Empfehlungen für ein strukturiertes Früherkennungsprogramm, einen Gentest und mögliche prophylaktische Operationen. Da ist mehrfach vom Alter von fünfundzwanzig Jahren die Rede. Vielleicht ist dreißig schon etwas spät? Schließlich stoße ich auf ein Schema, das den Ablauf des ganzen Prozesses zeigt. Dort lese ich, dass nach telefonischer Anmeldung ein erstes Beratungsgespräch stattfindet. Mindestens vier Wochen Bedenkzeit sollen danach ins Land gehen, bevor man sich für einen Gentest entscheidet. Dann folgt Kontaktaufnahme mit einem erkrankten Familienmitglied (wie soll das gehen, frage ich mich, Evelyns Mutter war ja seit Jahren tot, ebenso wie die Tanten), ein weiteres Beratungsgespräch und schließlich eine Blutentnahme, anhand derer dann endlich die Diagnostik beginnen kann. Sobald das Ergebnis vorliegt, kommen neue Beratungsgespräche auf einen zu. Auf Wunsch wird danach das Ergebnis wiederum mit dem
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