Oben ohne
richtig Winter geworden, und hinter dem Bodensee liegt bald eine dünne Schneeschicht über den braunen Feldern.
Ich fahre die Strecke routiniert, wir sind nicht sonderlich gesprächig, und Evelyn schläft viel. Was soll man auch sagen? Jetzt kommt halt der Tragödie zweiter Teil.
Auch in München liegt etwas Schnee, der Englische Garten sieht winterlich aus. Evelyn kommt in das gleiche Zimmer, das Bett am Fenster. Ein Blick aus dem Fenster: »Sie haben die Tanne als Weihnachtsbaum geschmückt«, sagt Evelyn. Alles beim Alten, auch hier. Die erste Überraschung gibt es am nächsten Tag. Die zweite Operation geht viel schneller. Fast pünktlich um zwei Uhr nachmittags landet meine Frau im Aufwachraum, jetzt ist sie also beidseitig operiert. Ich bin erleichtert, auch bei dieser OP ist alles glattgelaufen. Dass das Transplantat abgestoßen wird, ist für mich inzwischen nicht mehr so relevant, das verdränge ich bereits erfolgreich. Schließlich hat’s beim ersten Mal doch auch geklappt.
Die zweite Überraschung betrifft die Wärmedecke und das Essen: Es gibt direkt wieder richtige, also feste Nahrung. Und die Wärmedecke heizt Evelyn nur noch 24 Stunden und mit niedrigeren Temperaturen ein. Das Personal weiß auch nicht so genau, warum. Wir wollen später mal Professor Feller oder seinen Assistenten fragen, aber vergessen es schließlich. Jedenfalls ist die verkürzte Saunazeit für Evelyn natürlich angenehm, während sie enttäuscht ist, dass es nach der OP keinen Grießbrei gibt. Insgesamt haben wir den Eindruck, dass inzwischen deutlich mehr Betrieb in der Klink ist. Vor Weihnachten scheinen viele Schwangere einen terminierten Kaiserschnitt durchführen zu lassen. Sie wollen damit wohl verhindern, dass das Baby zu einem ungünstigen Zeitpunkt während der Feiertage kommt, wenn die Kliniken personell nicht so gut besetzt sind. Jedenfalls hört man nun viel mehr kleine Kreissägen, und überall schlappen Hochschwangere in Bademänteln an den Armen ihrer Angehörigen über die Flure.
Das Personal hat sich ganz offensichtlich gemerkt, dass ich mich fast komplett um die Pflege während der ersten Tage kümmere, und schaut nur noch sporadisch vorbei. Auch die nette Schweizerin ist kaum noch anzutreffen, was wir schade finden. Gelegentlich rufe ich die Schwestern, wenn der Urinbeutel seine Füllmenge erreicht hat. Das könnte ich zwar auch erledigen, aber schließlich muss ich nicht alles machen. Und tatsächlich merken wir beide schnell, dass unsere Kräfte sehr schnell schwinden.
Alles in allem ist die Stimmung viel gedrückter als beim ersten Mal. Über die ganzen kleinen Fortschritte in den ersten Tagen nach dem Eingriff – das erste Mal aufstehen, das erste Mal bis zum Ende des Gangs gehen, das erste Mal aus der Klinik heraus – freuen wir uns kaum noch. Im Gegenteil, wir sind beide eigentlich permanent angenervt. Nur kurz aufgestanden heute, nur bis zum Ende des Gangs gegangen, nur bis vor die Tür geschafft. Das Glas ist bei diesem Aufenthalt definitiv halb leer. Immer haben wir im Blick, was alles noch nicht wieder geht. Zudem hat Evelyn nach diesem Eingriff deutlich mehr Schmerzen. Sie sind nicht lokalisierbar, sondern diffus. Vielleicht wirken die Schmerzmittel deshalb nicht richtig oder ausreichend. Die Schmerzen sind aushaltbar, aber auf die Dauer zermürbend. Wir fragen zwar gelegentlich wegen einer höheren Dosierung, aber das Pflegepersonal ist seltsamerweise etwas unwillig, was die Herausgabe angeht. Auch das Abheilen der Narben läuft dieses Mal nicht ohne Komplikationen ab: Die Wunde am Po nässt seit einigen Tagen. Nicht tragisch, aber lästig. Vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass Evelyn körperlich und mental an der Belastungsgrenze ist.
Und es gibt noch mehr Anzeichen dafür, dass auch ich langsam, aber sicher an die Grenzen meiner Belastbarkeit komme. Mein Hotel ist naturgemäß keine Schönheit. Beim ersten Aufenthalt war das ja noch okay. Aber inzwischen fällt mir die Trostlosigkeit und Schäbigkeit der Räume doch sehr unangenehm auf. Das Frühstück ist wirklich freudlos und wird in einem kleinen Raum serviert, der abends als Bar dient. Entsprechend riecht auch morgens noch alles nach kaltem Rauch. Dann das Wetter: Langsam empfinde ich es als persönliche Beleidigung, denn es ist saukalt, und immer wieder schneit es. Die Strecke zwischen Klinik und Hotel ist so kurz, dass mir auf dem Rad nicht richtig warm wird, aber lang genug, damit ich zehn Minuten erbärmlich frieren
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