Oben ohne
eingeschränkt bin. Als ich dann dastehe und Tino mir sogar die Schuhe binden muss, komme ich mir unendlich blöd vor. Wie konnte ich auf die Idee kommen, Schnürschuhe mitzunehmen? Slipper hätte ich selbst anziehen können. Es ist zurzeit noch undenkbar, mich zu bücken und mir die Schuhe zu binden. Da würde zu viel Spannung auf meine Narben am Po kommen. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Allein geht es im Moment einfach nicht. Wieder kommt das Gefühl hoch, krank zu sein. Gott sei Dank erledigt Tino das alles so selbstverständlich für mich, und schon stehe ich angezogen im Zimmer. Jetzt noch vorsichtig in den Mantel geschlüpft, und dann startet die Expedition ins echte Leben.
»So, jetzt noch in den Englischen Garten?«, fragt Tino.
Wir stehen draußen auf dem kleinen Platz vor der Klinik. Es ist kalt, aber die winterliche Luft belebt mich. Auf der anderen Seite der Straße beginnt der Park. Mir kommt es vor, als sei er Lichtjahre entfernt. Noch vor wenigen Tagen bin ich hundert Kilometer am Stück mit dem Rad gefahren, heute stehe ich hier und wage es nicht, die Straße zu überqueren.
»Tino, das geht nicht, die Wege sind viel zu uneben!«
»Das macht nichts. Professor Feller hat doch gesagt, dass du alles machen darfst, worauf du Lust hast.«
Ich komme mir blöd vor. Er hat schon recht, was soll schon passieren, nur weil es ein paar Bodenwellen gibt. Meine übertriebene Vorsicht führt wahrscheinlich viel eher zu Problemen als die Wegbeschaffenheit.
»Also gut, noch ein paar Meter. Aber wenn ich umdrehen will, gehen wir sofort zurück!«
Tino nickt, und langsam bewegen wir uns erst über die Straße und dann über die hartgefrorenen Wege rund um den Chinesischen Turm. Nach einer Viertelstunde will ich umdrehen.
»Bist du sicher?«, fragt Tino.
Er würde die Runde noch deutlich größer machen, aber ich bestehe darauf umzukehren. Völlig unbeschadet erreichen wir wieder die Klinik und steigen hoch zu meinem Zimmer. Dort angekommen, fühle ich mich immer noch putzmunter. Tino grinst mich an: »Jetzt war es dir doch viel zu kurz.«
Ich kenne das schon: Es ist nicht das erste Mal, dass ich meine, ich müsste mich schonen – und hinterher bin ich völlig unausgelastet. Nun gut, beim nächsten Mal gehe ich weiter. Jetzt muss ich eben erst mal wieder zurück ins Bett.
Es ist Donnerstag. Mittlerweile kann ich problemlos aufstehen und rumlaufen. Auch Essen geht wieder vollständig ohne Hilfe. Nur auf dem Weg zur Toilette brauche ich noch Hilfe. Tino macht das alles, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich bin heilfroh, dass ich nicht jedes Mal nach einer Schwester klingeln muss. Das wäre mir peinlich. So einen ganz privaten Pfleger dabei zu haben, ist schon Luxus. Wobei sicherlich nicht jeder so unerschrocken wäre wie Tino. Aber auch die Schwestern sind sichtlich froh über seine Hilfe. Inzwischen kann er sich immer wieder eine Auszeit nehmen, da ich von Tag zu Tag mobiler werde. Längst sind auch die Flaschen für die Wunddrainage verschwunden. Gerade als Tino wieder einige Stunden unterwegs ist, klingelt mein Handy. Es ist Steffi, eine Freundin aus Grundschultagen, die inzwischen in Heilbronn lebt.
»Hallo, Evelyn, sag mal, wo genau ist die Klinik? Wir sind gerade auf dem Ring. Können wir direkt vorbeikommen, oder ist es gerade schlecht?«
Das ist ja toll. Steffi hier in München!
»Ihr müsst beim Hilton vom Ring runter. Ihr könnt natürlich vorbeikommen.«
Sie ist offensichtlich mit ihrem Mann unterwegs. Haben die beiden etwa extra Urlaub genommen wegen mir? Sie hatte sich nicht auf Tinos Rundmail gemeldet. Weshalb ich auch nicht mit ihr gerechnet habe. Aber sie liest ihre Mails nicht oft, und noch seltener antwortet sie.
Keine zehn Minuten später stehen die beiden bei mir im Zimmer. Sie haben sich tatsächlich wegen mir freigenommen, gehen nachher noch auf den Viktualienmarkt und düsen dann wieder zurück ins Schwäbische. Klasse, ich freue mich sehr!
Steffi ist angehende Gynäkologin und will alles ganz genau wissen. Sie hat auch schon recherchiert, wo ich eigentlich so liege. Sie war total erstaunt, wie viele Geburten pro Jahr in dieser Klinik abgewickelt werden. Mir sagen solche Zahlen natürlich herzlich wenig. Ich erkläre ihr alles: Wie es mir geht, wie es war, was die Ärzte gemacht haben. Schließlich wird es mir zu kompliziert, alles theoretisch abzuhandeln.
»Willst du es einfach sehen?«
»Würdest du es mir zeigen? Stört dich das nicht?«
»Das ist kein Problem
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