Oberst Chabert (German Edition)
hetzen, denn sie hatte Angst, einen Menschen über sich selbst zu setzen oder das Unheil noch zu beschleunigen. Es gibt in Paris nicht nur diese eine Gräfin Ferraud, die, mit einem ungeheuren moralischen Übel behaftet, dicht neben einem Abgrund nachtwandelt. Menschen wie sie bekommen eine Schwiele an der Stelle ihres Schmerzes, dann können sie noch lachen und fröhlich sein.
Es gibt einen ungelösten Punkt in der Situation des Grafen Ferraud, sagte Derville am Ende seiner langen Überlegung zu sich, als sein Wagen in der Rue de Varennes, vor dem Hause der Gräfin hielt. Wie kann es sein, daß der Graf, reich, mit dem Könige befreundet, noch nicht Pair de France geworden ist? Es ist vielleicht ein Wesentliches in der Politik des Königs, wie mir Frau de Grandlieu eröffnet hat, daß er der Pairie eine höhere Bedeutung dadurch geben will, daß er sie nicht leicht vergibt. Und schließlich ist der Sohn eines Staatsrates nicht ein Fürst Rohan. Der Graf Ferraud könnte nur durch einen besonderen Weg in die höchste Kammer kommen. So vielleicht, daß er im Falle der Scheidung seiner Ehe, sehr zur Genugtuung des Königs, mit der Hand der Tochter eines alten Senators auch dessen Sitz in der Kammer erhielte, vorausgesetzt, daß der alte Senator keine Söhne und Erben hat. Jedenfalls ein schwerer Klotz, der, vor die Füße unsrer Gräfin geworfen, ihr Schrecken einjagen kann, dachte er, indem er die Treppe emporstieg.
Derville hatte, ohne es zu wissen, den Finger an die empfindlichste Stelle der Wunde gelegt. Nun wurde er von der Gräfin in einem hübschen Speisesaal, den man im Winter benützte, empfangen. Sie war gerade beim Frühstück und spielte mit einem Äffchen, das durch eine dünne Kette an einem mit Blech eingefaßten Ständer festgehalten war. Sie trug ein elegantes Hauskleid. Die Locken hatte sie nachlässig emporgerafft, sie sahen unter einem Häubchen hervor, dies gab ihr ein niedliches Aussehen. Silber, Email, Elfenbein glitzerten auf der Tafel. Wundervolle Blumen in kostbaren Porzellanvasen standen neben der Hausfrau. Als der Anwalt die Frau des Grafen Chabert in ihren reichen Luxus gebettet sah, sie, die sich an ihrem Mann bereichert hatte und nun auf den höchsten Höhen der Pariser Gesellschaft strahlte, während der unselige Gatte bei einem Viehzüchter Wand an Wand mit dem lieben Vieh leben mußte, da sagte der Anwalt zu sich: Was ist die Moral der Geschichte? Doch nur, daß eine Frau weder als Gatten noch als Geliebten einen Mann anerkennen wird, der in altes, verfilztes Militärzeug gekleidet ist, der eine Perücke aus Hundehaar auf seinem kahlen Schädel trägt, und der zerrissene Stiefel an den Füßen hat. Ein boshaftes, vernichtendes Lächeln war das äußere Zeichen dieser halb philosophischen, halb stichelnden Beobachtung, die einem Manne zufliegen mußte, der so wie dieser den fabelhaftesten Platz in der Gesellschaft hatte, um in ihre letzten Gründe und Untergründe hinabzuleuchten, trotz der Lüge und Heuchelei, mit der die meisten Pariser Familien ihre Familiengeheimnisse zu decken versuchen.
»Guten Tag, lieber Derville«, sagte die Gräfin und ließ sich nicht darin stören, dem Äffchen Kaffee zu verabreichen.
»Meine gnädige Frau,« sagte er schroff, denn der herablassende Ton, mit dem die Gräfin ihn angesprochen, ärgerte ihn doch, »ich habe eine ernste Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen.«
»Oh, das ist schlimm, der Graf ist nicht anwesend.«
»0h, das ist ausgezeichnet, meine Gnädigste. Schlimm wäre es, wenn er unserer Unterredung beiwohnte. Ich weiß übrigens durch Delbecq, daß Sie Ihre Angelegenheiten selbst in Ordnung zu bringen lieben, ohne den Herrn Grafen damit zu langweilen.«
»Nun, gut, so will ich Delbecq kommen lassen.«
»Trotz seiner Klugheit könnte er uns hier nichts nützen«, sagte Derville. »Hören Sie, meine Gnädige, ein Wort wird genügen, um Sie ernster zu stimmen. Der Graf Chabert ist am Leben.«
»Mit solchen tollen Scherzen wollen Sie mich zum Ernst zwingen?« antwortete sie mit sprudelndem Lachen.
Aber sie war gebändigt durch den fremdartig kalten und durchbohrenden Blick, mit dem ihr Derville bis auf den Grund des Herzens sah.
»Meine verehrte Gräfin,« sagte er mit klarem, schneidendem Ernst, »Sie übersehen vielleicht nicht ganz die Größe der Gefahr. Ich will nicht sprechen von der absolut sicheren Echtheit der Protokolle, noch von der Sicherheit und Verläßlichkeit und Unanfechtbarkeit der Belege, die unverbrüchlich die
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