Oberwasser
Ich habe da eine Idee. Aber zuerst durchsuchen wir das Haus.«
Im Hinterzimmer des Ladens war niemand zu finden, auch im angrenzenden Zimmer nicht. Das ganze Erdgeschoss war menschenleer, einige Schubladen standen offen. Die unterschiedlichen Staubablagerungen in den Schubladen verrieten, dass erst vor kurzem etwas herausgenommen sein musste. Auch im ersten Stock gab es, zwischen all den gigantischen Ansammlungen von Nippes und Plunder, Schränke mit herausgezogenen Schubladen. Im zweiten Stock hing ein riesiges Bild schief, fast wären sie daran vorbeigegangen.
»Gssst!«, zischte Nicole und wies mit dem Kopf auf das Bild. Sie streiften Handschuhe über. Sie nahmen das Bild ab. Der große Tresor stand einen Spalt offen.
»Leer?«
Langsam und vorsichtig öffnete Jennerwein die Stahltür. Der Tresor war nicht leer. Eine blasse Frau mit einer altmodischen Frisur saß im Inneren, sie hatte genau darin Platz gefunden. Ihre Knie waren an den Leib gepresst, ihr Kopf war unnatürlich nach außen gedreht, ihr Blick war nicht mehr von dieser Welt. Der Dutt war nach Werdenfelser Mode geknüpft und mit einigen Broschen und silbernen Nadeln befestigt.
»Wanda?«, fragte Nicole.
»Nein«, sagte Jennerwein. »Ich vermute, das ist eher die bedauernswerte Frau Neuner.«
»Was? Die Frau Neuner ist tot?«
»Ja, Giftspritze. Wir haben Einstiche am Hals gefunden. Wir machen jetzt Folgendes. Sie beide gehen um das Haus herum, postieren sich wieder in einigem Abstand und achten auf alle, die aus der Vordertür des Ladens kommen. Ich werde mit Nicole ins Hinterzimmer gehen, wir werden die hereinkommenden Kunden durch den Vorhang beobachten. Wenn uns jemand verdächtig vorkommt, geben wir Ihnen Bescheid. Dann verfolgen Sie ihn unauffällig – vielleicht führt er sie zu Wandas neuem Stützpunkt.«
Johann Ostler wurde natürlich von der Gattinger Martha und von der Hohenleitner Resl angesprochen, vom Baureferenten Gungl, vom pensionierten Volksschullehrer Raabmayr – und von vielen anderen Bürgern mehr. Maria konnte dadurch frei arbeiten und die Eingangstür umso besser beobachten.
»Was machst denn du da?«, fragte die Hirschl Theresa.
»Geh bitte schnell und unauffällig weiter«, zischte Ostler.
»Aha, schon wieder auf Wilderer-Jagd. Der in der Höllentalklamm ist euch ja ausgekommen, hört man!«
»Ja, so ist es. Jetzt geh bitte weiter.«
»Wenn es den polizeilichen Ermittlungen dient.«
Jennerwein schnitt zwei kleine Löcher in den Vorhang, Nicole schaltete alle Lichter im Rückraum des Ladens aus.
»Wenn jemand den Laden betritt«, sagte der Kommissar, »dann betrachten wir ihn uns genau. Ich für meine Person achte darauf, ob er irgendwo nach einer verborgenen Nachricht Ausschau hält, Sie wiederum sehen sich den Kunden selbst an. Sie haben ein gutes Gespür dafür, auffällige Verhaltensweisen von Personen sofort zu erkennen.«
»Danke, Chef.«
»Erst wenn wir beide der Meinung sind, dass es ein Fliegender Kunde ist, greifen wir zu.«
»Haben Sie eine Vorstellung von solch einem – Kunden?«
»Er wird versuchen, sich vollkommen unauffällig zu verhalten. Vielleicht tut er uns den Gefallen und übertreibt das.«
»Vielleicht ist es nicht nur einer, sondern mehrere. Vielleicht ist es nur einer und mischt sich unter eine Gruppe.«
»So würde
ich
das jedenfalls machen.«
»Und Sie glauben, dass sich hier im Laden irgendwo eine Nachricht befindet?«
»Ja, und zwar die, dass diese Bank hier abgebrannt ist. Vielleicht auch ein Hinweis, wo sich die neue Fliegende Sparkasse befindet. Wir wissen nicht, wo die Nachricht ist. Und wenn, dann könnten wir sie nicht entschlüsseln. Er schon. Und er wird uns zu Wanda führen.«
Zwei junge Rucksacktouristen traten ein, sahen sich im Laden um, warteten eine Weile, betasten ein paar Porzellangegenstände. Sie nahmen sie sogar hoch, und das alles mit bloßen Händen.
Nicole und Jennerwein schüttelten den Kopf. Harmlos.
Dann kam ein Klischeewanderer herein: Rotkariertes Hemd, wandernadelübersäter Hut, heruntergerollte Kniestrümpfe, sonnenverbrannte Wadeln. Er blickte sich kurz und flüchtig um, dann erst kam er zur Ladentheke und las das Schild. Er schüttelte den Kopf und verließ den Laden fluchend.
Harmlos.
Vier Japaner mit aufgefalteten Landkarten stolperten herein, sie sprachen und lachten wild durcheinander. Sie fotografierten das Eichhörnchen.
Harmlos.
Zwei feine, blau ondulierte Damen öffneten die Tür, jede wollte der anderen den
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