Oberwasser
Fingerhakeln!«, schrie der Ansager ins alte Shure-Mikrofon aus den Sechzigerjahren, und ein Scheinwerfer beleuchtete ein Tischchen auf der Bühne, an dem der fettglänzende Moisch Ludwig saß.
»Man nennt ihn den Dreizentner-Lucki.«
♫ Tusch
»Wer von Ihnen im Saal dieses Mordstrumm Mannsbild über den Tisch zieht, dem spendiert die Brauerei einen Hektoliter Bier.«
♫ Zweifacher Tusch.
»Wie schauts aus?«
Fingerhakeln durfte bei den Heimatwochen nicht fehlen. Platteln hätte zur Not noch ausfallen können, aber Finkerhakeln musste einfach sein. Der Dreizentner-Lucki war unangefochtener bayrischer Meister, sogar deutscher Meister. Europameisterschaften im Fingerhakeln gab es schon gar nicht mehr, also war er eigentlich Weltmeister.
»Wie schauts aus? Einen Hektoliter Bier für denjenigen unter Ihnen, der den Stier von Wamberg besiegt!«, rief der Ansager.
Ein paar angeheiterte Touristen versuchten es, sie stolperten unter großem Applaus auf die Bühne, sie hatten natürlich keine Chance. Der Dreizentner-Lucki musste sich nicht einmal anstrengen, er bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle.
»Als Läufer wäre der nichts!«, sagte der Rothe Heiner zu seinem Nachbarn. »Der hat die Kraft mehr in den Armen.«
»Wie schauts aus mit dem Tisch da hinten?« Der Suchscheinwerfer fuhr hin. »Wenn mich nicht alles täuscht, sind das doch die Schlauderaffen, die immer beim Metzger Kallinger herumhängen! Wie siehts aus? Leberkäse soll doch kräftigend wirken!«
Gelächter am Tisch Kallinger.
♫ Ein Prosit der Gemütlichkeit
von der Blaskapelle. Schließlich erhob sich der Metzger Kallinger persönlich. Er war einen Kopf kleiner als der Stier vom Wamberg, aber er war ein drahtiger Mann. Er konnte dem bayrischen Meister sogar ein paar Sekunden standhalten, dann wurde auch er über den Tisch gezogen. Ein Achtungserfolg immerhin.
♫ Es war ein Schütz’ in seinen besten Jahren …
Der Suchscheinwerfer richtete sich auf den Tisch, an dem Jennerwein und die Seinen saßen. Natürlich hatte das kommen müssen. Großer Applaus im Publikum. Einige Bravo-Rufe stachen heraus. Schließlich wurde auffordernd rhythmisch mitgeklatscht.
»Wie ist es mit den Damen und Herren Polizisten?«, rief der Ansager. Das Klatschen verstärkte sich, alle im Publikum nickten begeistert. Die Teammitglieder am Tisch blickten fragend zu ihrem Chef, der schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, aber ich muss passen. Mir tun noch sämtliche Knochen von der Klammabfahrt weh.«
Verstärktes rhythmisches Klatschen. Maria beugte sich zu Dr. Rosenberger.
»Ich würde es glatt machen, aber ich bin auch nicht so ganz fit.«
»Sie würden es machen?«
»Ja, natürlich. Es ist gar nicht so viel Kraft nötig. Man muss nur den richtigen Augenblick erwischen. Die Hundertstelsekunde, in dem die Konzentration dieses Fettkloßes nachlässt, die muss man erwischen. Jeder Mensch kann sich nur etwa fünf bis sechs Sekunden voll konzentrieren –«
»Ich mache es«, sagte Dr. Rosenberger zur Überraschung aller am Tisch. Er erhob sich. Seine Gestalt war imposant.
Das rhythmische Klatschen schwoll so laut an, dass es das
♫ HumpfHumpfHumpf
des Bayrischen Infanteriemarschs übertönte.
»Ja, das gibts doch nicht! Das doch der Kriminaloberrat Dr. Rosenberger, der da aufgestanden ist! Da sind wir aber gespannt!«
Dr. Rosenberger hatte etwa die gleiche Größe wie der Profi-Fingerhakler dort oben auf der Bühne. Er war jedoch wesentlich muskulöser. Er zog seine Trachtenjoppe aus und machte einige Fingerdehnübungen.
»Es ist genauso wie beim Schachspielen«, sagte er leichthin zu seiner verdutzten Truppe. »Man muss sich in den Gegner hineindenken. Warten Sie’s ab!«
Er schritt auf die Bühne, und er hatte wie immer etwas Würdevolles in seinen Bewegungen. Er krempelte die Ärmel hoch. Die Lederhose saß wie angegossen, die hatte er sich sicherlich maßschneidern lassen. Der Gamsbart auf seinem Hut zitterte leicht, seine Haferlschuhe waren spiegelblank.
»Er könnte es schaffen«, sagte Stengele. »Man muss dem anderen nur in die Augen schauen. Wenn er blinzelt, muss man anziehen.«
Dr. Rosenberger setzte sich. Er war auf Augenhöhe mit dem Koloss. Hinter beide Finkerhakler stellten sich, für alle Fälle, Auffänger. Die Kapelle schwieg. Der Oberrat griff zum Gummiring, der beim Fingerhakeln verwendet wurde und hielt ihn dem Ungetüm hin. Er blickte dem Weltmeister in die Augen. Unter dem Gejohle der Bierzeltbesucher spannte sich der
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