Oberwasser
Fehlversuch?«
Dr. Rosenberger machte eine undefinierbare, väterlich gutmütige Handbewegung. Stengele erhob sich rumpelnd und trat ein paar Schritte auf die Männer zu. Abwechselnd untersuchte er die Handinnenflächen der beiden. Er verglich sie so sorgfältig, wie er im Hochwald frische Gamskitzlosung untersucht hätte.
»Ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass der linke Mann ein Verdeckter ist«, sagte er schließlich brummelnd. »Der rechte hat Hände zum Seitenumblättern und Bleistiftspitzen – dem anderen traue ich zu, dass er schon ein paar Mal in einer Felswand gekraxelt ist. Oder bei der Einzelkämpferausbildung drei Tage im Matsch gelegen ist. Die Schwielen kommen jedenfalls nicht vom Papierfalten.«
Stengele setzte sich wieder zu seinen Kollegen.
»Und Sie, Becker?«, sagte Dr. Rosenberger, dem die Demonstration immer mehr Vergnügen zu bereiten schien. »Was meinen Sie?«
»Ich muss leider passen«, erwiderte dieser verlegen. »So rein aus dem Bauch heraus kann ich das nicht beurteilen. Ich bräuchte Hautfetzen von den Händen. Ein ausgezupftes Haar würde mir auch genügen. Oder wenigstens eine Faser. Bis heute Abend hätte ich dann Ergebnisse. Spätestens morgen früh.
Meine
Ergebnisse wären dann allerdings hundertprozentig.«
Den kleinen Seitenhieb auf alle anderen Ermittler und Schlussfolgerer hatte er sich nicht verkneifen können. Nicole Schwattke war dran. Sie stellte sich vor den linken Mann und hob die Hände zu einer Tai-Chi-Kampfpose, so etwas wie
Wendige Mücke weckt schläfrigen Tiger
. Dann holte sie zu einem Schlag aus, einem stilisiert langsamen Hieb allerdings, ihre Faust stoppte dicht vor dem Gesicht des linken Mannes. Alle beobachteten die Szene gespannt. Der Mann zeigte keinerlei Reaktion. Konnte ein Steuerberater so viel Selbstbeherrschung zeigen? Härteten ihn die Gesetzblätter und Sonderverordnungen so ab? Es schien so. Nicole brachte sich in Stellung, um die Übung mit dem rechts Stehenden zu wiederholen.
»Bei mir brauchen Sie es gar nicht zu probieren«, sagte dieser unvermittelt und verzog dabei ebenfalls keine Miene. »Jetzt, wo ich weiß, dass Sie nicht durchziehen, werde ich sicherlich nicht zusammenzucken.«
»Vielleich hätte ich bei Ihnen ja wirklich zugeschlagen.«
»Dazu sind Sie nicht der Typ.«
»
Sie
sind nicht der verdeckte Ermittler«, sagte Nicole und ging zurück. »Sie quatschen mir zu viel.«
Alle blickten auf Jennerwein. Dr. Rosenberger nickte ihm ermunternd zu. Der Kommissar seufzte. So wie der Papa beim Kindergeburtstag seufzt, wenn er beim Würstlschnappen mitmachen soll. Er trat auf den linken Mann zu und sah ihm aus nächster Nähe in die Augen. Der hielt der Blickmensur stand, ohne zu blinzeln. Jennerwein schritt zum anderen und musterte ihn ebenfalls. Er suchte etwas ganz Bestimmtes – den starren Blick des Jägers, den Blick eines Menschen, der gar nicht anders kann, als in den Polizeidienst zu gehen. Der todunglücklich ist, wenn er Steuerberater, Oberstudienrat oder Restauranttester wird. Jennerwein fand keinen solchen Blick.
»Das sind beides keine verdeckten Ermittler«, sagte Jennerwein. »Sie haben nicht den Blick.«
Auf einen Wink des Polizeioberrats wandten sich die beiden weichlichen Probanden zum Gehen, sie tuschelten dabei leise miteinander. Nicole Schwattke (die mit den jüngsten und folglich besten Ohren) glaubte ein
Das geht ja schon gut los!
herauszuhören. Der Chef machte überhaupt keine Anstalten, das Rätsel aufzulösen. Das hatte auch niemand erwartet. Alle hatten die Botschaft verstanden: Bei diesem Auftrag konnte man nicht sicher sein, wer der Gute und wer der Böse war.
Dr. Rosenberger erhob sich. Dann hielt er den knallroten Schnellhefter hoch und fächelte damit ein paar Kubikmeter Luft weg.
»Jeder von Ihnen liest sich das durch und prägt sich die Daten ein. Verteilen Sie die Informationen auf das Team. Sie haben zwei Stunden Zeit. Gehen Sie in den Büroraum nebenan. Wenn Sie fertig sind, bringen Sie mir das gute Stück wieder zurück. Und nochmals: keine Notizen.«
Alle machten sich daran, dieser Anweisung Folge zu leisten und ins Nebenzimmer zu gehen.
»Nein, halt, Sie bleiben hier, Jennerwein. Ich habe unter vier Augen mit Ihnen zu reden.«
»Anpfiff?«, fragte Nicole Schwattke die anderen, als sie draußen auf dem Flur standen.
»Das glaube ich nicht«, sagte Stengele. »Jennerwein ist der gewissenhafteste Beamte, den ich kenne. Ich denke nicht, dass er auch nur einen einzigen
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