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Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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Eintrag in der Personalakte hat.«
    »Jeder hat irgendwas«, sagte Maria Schmalfuß.

9 .
    Immer wieder deutete der Weißkittel mit seinem zerkauten Bleistiftstummel auf meinen Schädel. Er erzählte mir etwas von der Hirnforschung, die in letzter Zeit so große Fortschritte gemacht hätte. Ein russischer Arzt soll das Zentrum für Schmerzempfindung endlich lokalisiert haben – das Lublomossowsche Zentrum oder so ähnlich. Anwendungen: Öffnen der Schädeldecke, Implantat eines beweglichen Moduls in diese Region. Schließen der Schädeldecke, Fernsteuerung des beweglichen Moduls – perfekte Kontrolle eines Menschen. Ist angeblich bei einigen Politikern schon zum Einsatz gekommen.
    Er ließ den Stift sinken, klappte das Buch zu und verstaute beides sorgfältig in der Innentasche seiner Jacke. Das konzentrierte Schreiben in der Dunkelheit hatte ihn ein wenig von den brennenden Kopfschmerzen und dem höllischen Durst abgelenkt. Die Kopfschmerzen hatten zwar etwas nachgelassen, aber sein Gesamtzustand war immer noch miserabel. Trotz alledem hatte er sich immer noch nicht dazu überwinden können, den oberen Bereich seines Schädels abzutasten. Es wäre ein einziger, beherzter Griff gewesen. Er hatte sich vorgenommen diese naheliegende Untersuchung erst dann zu machen, wenn er wusste, dass er sich in Sicherheit befand. Er musste unbedingt herausfinden, wo er war. Er richtete sich auf und tastete sich vorsichtig an der groben Steinwand entlang. Sie fühlte sich gleichmäßig feuchtkalt an und wies nirgends Spuren menschlicher Bearbeitung auf. Er setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Er zählte seine Schritte, um wieder zu seinem ursprünglichen Platz zurückzufinden. Nach zwanzig Schritten hielt er inne und verschnaufte. Das vorsichtige Tappen war anstrengend gewesen – oder war er jetzt schon so außer Form? Er ließ sich auf alle viere nieder und entfernte sich langsam von der Wand. Der Boden war ebenfalls aus grobem Gestein, er war leicht abschüssig und wurde mit wachsender Entfernung von der Wand immer steiler. So kroch er vorsichtig weiter. Plötzlich war ihm, als hätte er ein Geräusch vernommen. Er lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinein, um die Richtung auszumachen, aus der es gekommen war. Jetzt wieder! Es war ein dumpfes, gleichmäßiges Pfeifen, so etwas wie das Atmen eines großen Tieres. Es kam aus der Richtung, in die er sich gerade bewegte. Alle paar Sekunden schnaufte und schmatzte das große Tier laut und vernehmlich. Sollte er ein Streichholz entzünden? Nein, noch nicht. Er kroch unendlich langsam weiter, er musste jetzt zehn Meter von der Wand entfernt sein. Das Schmatzen wurde lauter und deutlicher. Vorsichtig streckte er die Hand aus. Wo hatte er dieses Schmatzen und Schlürfen schon einmal gehört? Er konzentrierte sich. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf, so wie er es in der Grundausbildung gelernt hatte. Leises Schmatzen, eher ein Klicken, ein helles, weiches Geräusch mit angenehmen Assoziationen. Süden, Sonne, Urlaubsbilder. Gardasee? Gardasee! Ein Spaziergang am Strand entlang, Rast in einem kleinen Café in Torbole, an einem Bistrotischchen. Und jetzt wusste er, was da schmatzte und röchelte: Wasser, das ans Ufer schlug. Es war durchaus kein starker Wellengang, es war stehendes Gewässer, so etwas wie ein ruhiger See, der alle Ewigkeit einmal ans Land suppt.
     
    Er kroch noch zwei oder drei Meter abwärts, dann konnte er es auch riechen, das schmatzende Ungeheuer. Der Boden wurde immer abschüssiger, er spreizte sich bergsteigerisch ein, dann streckt er die Hand aus und tauchte sie ins kühle Nass. Er zählte: einundzwanzig, zweiundzwanzig, keine Piranhas, keine Undinen, Nixen, Nöcker und Wasserelfen, die ihn hinunterzogen. Er schnupperte an der feuchten Hand, er leckte daran, es war sauberes, würzig frisches Wasser. Er formte die Hände zu einem Trichter und trank in großen, gierigen Schlucken. Mit jedem Schluck wurde ihm wohler und er legte sich auf den Rücken, um sich auszuruhen.
    Es muss ein lang gezogener Raum sein, so etwas wie ein Tunnel. Der Boden fällt stark nach einer Seite ab, dort hat sich viel Wasser angesammelt. Ein unterirdischer See? Ein Keller mit einem Wasserreservoir? Kaum vorstellbar, zu großer Aufwand! Gardasee? Gardasee! Eine Villa am Steilufer. Eine verschwiegene Ausfahrt. In der Nähe von Torbole soll es solch eine gut getarnte Schmugglerhochburg gegeben. Da hatten sie damals auch die Operation durchgeführt …
    Wieder klappte er das

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