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Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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Buch zu, vergewisserte sich, ob er noch alles am Körper hatte. Das Messer, die Streichhölzer, und vor allem: die Mehrzweck-Drahtschlinge. Warum eigentlich Mehrzweck? Sie erfüllte nur einen einzigen Zweck. In der französischen Fremdenlegion hieß sie
La belle grêle
, die schlanke Schönheit. Die Würgeschlinge war meist mit Holzklötzchen versehen, manchmal auch mit den bequemeren Ledergriffen. Die Landsknechte des Dreißigjährigen Krieges bezeichneten sie als die
Fleißige Liesl
, die Sizilianer nannten sie
La rosa silenziosa
, die lautlose Rose. Der Clanchef Luigi Cominotti soll so begeistert von ihr gewesen sein, dass er sie an sich selbst ausprobierte, als er seinem langen Leben ein Ende setzte.
     
    Er griff in die Jackentasche. Die Drahtschlinge war noch da. Für alle Fälle. Warum hatte er die noch? Warum hatten sie ihm die nicht weggenommen? Sollte er sie in der Hand halten, um bei einem Angriff gewappnet zu sein? Er kroch zurück zur Wand und tastete sich dreißig oder vierzig Schritte weiter in den Tunnel hinein. Dann machte die Wand eine Biegung nach rechts, erst gemäßigt, dann scharf, er kam um eine Ecke. Das Schmatzen des Wassers war immer noch zu hören, die Akustik hatte sich jedoch deutlich verändert. Er beschloss, eines der wertvollen Streichhölzer zu verbrauchen. Er entzündete es. Es leuchtete nicht viel weiter als fünf oder sechs Meter. Sein Magen verkrampfte sich, ihm brach der Schweiß aus. Er war nicht allein.

10 .
    »Ich habe großes Vertrauen zu Ihnen, Jennerwein«, sagte Dr. Rosenberger, als die beiden alleine waren. »Und dieser Auftrag ist mir sehr wichtig. Fred Weißenborn und ich waren gut befreundet. Ach was – wir waren die dicksten Freunde, die es gibt. Ich muss meine ganze verdammte Professionalität aufbringen, um bei den Ermittlungen cool zu bleiben.«
    »Sollte der Fall nicht –«
    »Natürlich sollte der Fall jemand anderem als mir übertragen werden, Jennerwein. Aber wie würden Sie an meiner Stelle handeln? Stellen Sie sich vor, Ihr bester Freund ist in Schwierigkeiten, und Sie könnten helfen.«
    Jennerwein schwieg. Schließlich nickte er langsam und zustimmend.
    »Ich sage Ihnen das im strengsten Vertrauen«, fuhr der Oberrat fort. »Die Sache ist noch brisanter, als Sie bisher wissen. Ich kann nicht ausschließen, dass es einen Verräter in diesem Team Werdenfels gibt, einen Mann, den die Mafia in das BKA eingeschleust hat.«
    Jennerwein zuckte erschrocken zusammen.
    »Ein Verräter?«
    Das machte die Sache ausgesprochen gefährlich. Dr. Rosenberger fuhr fort.
    »Wir befinden uns in einem wirklichen Dilemma. Die Beamten können in eigener Sache nicht weiter ermitteln, sie brauchen Hilfe von außen.«
    »Ist es, ganz theoretisch, auch möglich, dass die Mafia gar nichts mit dem Verschwinden der beiden zu tun hat? Dass wir es mit ganz privaten Motiven zu tun haben?«
    »Rein theoretisch ja. Aber wäre das nicht ein unwahrscheinlicher Zufall? Zwei Beamte tauchen mitten in einer brisanten Ermittlung ab, weil sie plötzlich Lust haben, in Neuseeland Schafe zu züchten?«
    »Da haben Sie recht.«
    »Passen Sie gut auf sich und Ihr Team auf. Und riskieren Sie nichts. Wie ist es mit diesen beiden Polizeiobermeistern im Kurort, Johann Ostler und Franz Hölleisen – kann man sich auf die verlassen?«
    »Für die lege ich meine Hand ins Feuer.«
    »Viel Glück, Jennerwein.«
    Der Hauptkommissar verabschiedete sich und ging zu den Seinen. Die vier Ermittler waren bereits eifrig über den Inhalt des knallroten Geheimnisschnellhefters gebeugt und prägten sich Daten und Fakten ein: Die Lebensläufe der Verdeckten, ihre Klarnamen, ihre Tarnnamen, ihre dienstlichen Laufbahnen, ihre Beurteilungen, ihre bisherigen Aktivitäten im Kurort. Dazu allgemeine Informationen über organisierte Kriminalität in Südbayern. Sie verbrachten die nächsten zwei Stunden mit dem meist schweigenden Studium der hundertseitigen Akte. Jennerwein warf nur ab und zu einen flüchtigen Blick auf die Blätter, um daraufhin aus dem Fenster zu sehen. Er schien unkonzentriert, doch das Team wusste, dass das seine Art war, sich etwas einzuprägen.
    »Wie packen wirs an?«, sagte Stengele in eine Pause hinein.
    »Die ganze Sache muss schnell über die Bühne gehen«, sagte Jennerwein. »Wir haben nicht viel Zeit für große Vorbereitungen, wir müssen möglichst rasch an Ort und Stelle sein. Dann müssen wir im Kurort einige Tage arbeiten können, ohne dass auffällt, an was wir arbeiten. Allerdings

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