Oberwasser
Polyäthylether verwechselt hatte). Oliver Krapf hatte ebenfalls noch kein festes Berufsziel. In Mathe war er allerdings ein Genie. Wo andere rechneten, legte er die Hand aufs Blatt, er fühlte die Drehstreckzerrspiegelungen durch den ganzen Körper. Aber jetzt, mitten auf dem Marktplatz in Fès, wo die mitteleuropäische Denkweise ins Schlingern gerät, vermisste Oliver Krapf sein Notebook. Er vermisste sein iPhone, sein Mobiltelefon, alles, was einen Menschen ausmacht eben. Aber das sollte ja der Witz von diesem Nordafrika-Trip sein. Sie hatten zusammen beschlossen, eine vollkommen analoge Reise zu machen, ohne irgendwelche digitale Hilfsmittel, ohne Besuch eines Internetcafés, ohne Telekommunikation und hunderttausend Songs auf der Festplatte. Der Joke sollte der sein, so zu reisen, wie ihre Eltern in grauer Vorzeit gereist waren. Sogar eine Gitarre hatten sie mitgenommen, und Tina hatte, sozusagen als historisches Zuckerl, mehrmals versucht, Bob-Dylan-Songs zu klampfen und zu singen:
♫ Come gather ’round people wherever you roam
, G-Dur/E-moll/C-Dur/G-Dur mit haufenweisen Barréegriffen. Sie hatten alle sehr gelacht über die schauderhafte Weltsicht der Siebziger und Siebzigerinnen.
»Meine Mam und mein Dad sind damals auch hierher gefahren«, sagte Flo. »Es gibt peinliche Fotos: Walleklamotten, Jesuslatschen, Mittelscheitel, Henna.«
Es war gar nicht so leicht, solch eine analoge Reise konsequent und den ganzen Tag lang durchzuziehen. Papierene Stadtpläne, zentnerschwere Lexika, schließlich Restaurants, von denen man die Userbewertungen nicht kannte. Oliver Krapf traf dieser digitale Entzug jedoch am härtesten. Für ihn war die Aktion
Lebe die Siebziger
ein Cold Turkey, und er bereute es immer mehr, mitgefahren zu sein. Sie gingen jetzt eine enge Gasse entlang. Oliver Krapf hielt sich ein bisschen hinter den anderen, er betrachtete die arabisch geschnörkelten Ornamente an der Hauswand, er versuchte eine Ladeninschrift zu entziffern, und er fragte sich, ob ein Araber das altdeutsche große »G« auch als so ornamental, so abgedreht und fern empfindet. Ein Händler winkte, ein Schlepper schleppte, ein Drücker drückte, und bald standen alle fünf in einem marokkanischen Laden, prall voll mit Teppichen. Es roch nach Pfefferminztee und, natürlich, Ras el-Hanout. Oliver fand diesen Laden total doof, er versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen.
»Gefällt es dir nicht?«, fragte Tina.
»Wenn ich einen Teppich haben will, dann kauf ich mir den bei eBay«, raunzte Oliver.
»«, sagte Dirk, der Händler hielt das für ein schlecht ausgesprochenes as-lahma, was so viel wie Grüß Gott bedeutet hätte. Der Händler grüßte zurück in echtem Hocharabisch, fragte auf Englisch nach Herkunftsland, sozialem Hintergrund und Verkehrsmittel, um auszuloten, bei welchem Teppichpreis man bei diesen Fremden einsteigen könnte. Sie sahen sich um. Sie konnten einen echten Teppich nicht von einem noch echteren unterscheiden. Oliver Krapf blieb im Laden etwas zurück und sein Blick fiel auf Tina, die zu einem großen, mit einem Halbmond bedruckten Jutesack gegangen war. Sie beugte sich über den Sack und wühlte darin herum. Tina fand er gar nicht so uninteressant, aber den Jutesack fand er doof und den Halbmond drauf fand er gigadoof. Doch Tina winkte ihm, und er ging schließlich hin und half ihr beim Wühlen. Warum er das machte, wusste er selbst nicht. Selbst ein paar Wochen später, als ihm jemand einen kalten Pistolenlauf an die Stirn drückte, konnte er sich noch an diesen Moment der Inkonsequenz erinnern. Hätte er bloß damals diesen Sack nicht durchwühlt, dachte er später, dann wäre er nicht in solche Schwierigkeiten geraten. Hätte, wäre.
Der Jutesack war zur Hälfte gefüllt mit Münzen in verschiedenen Größen, Aufschriften und numismatischen Daseinszuständen. Beide tauchten ihre Hände in das kalte Kleingeld, ihre Finger berührten sich irgendwo in der Mitte des Münzenteichs, beide zuckten zurück und ließen die Hände wieder auftauchen.
»Hier sieh mal«, sagte Tina und hielt etwas Blinkendes hoch. »Eine deutsche Münze. Wie die wohl hierhergekommen sein mag?«
Tina legte ihm den Silberling in den Handteller, einen plumpen Metallklacks, etwas größer als ein Zweieurostück, auch ein wenig dicker, und ein wenig schwerer. Unregelmäßig waren die Ränder, ungleichmäßig schien die Prägung. Vielleicht hatte jemand die Münze aber auch nur auf die Eisenbahnschienen
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