Oberwasser
Gruppe von Menschen auf der Erde. Sie waren alle in Tierfelle gehüllt. Ein alter Mann hockte in der Mitte, einige Kinder und Jugendliche scharten sich um ihn. Der Alte erzählte, die anderen hörten zu. Konnten denn diese verfluchten Salewski-Halluzinationen so konkret sein? Er beleuchtete die Szenerie. Die Menschen nahmen keine Notiz von ihm.
»Hallo!«, krächzte er. Es war das erste Wort, das er seit drei Tagen gesprochen hatte.
49 .
»Da gibt es doch dieses Lied von den verunglückten Flößern«, sagte Ursel.
Sie nahm einen Zettel vom Besprechungstisch und schrieb das Wort
Floezzer
darauf.
»Wissen Sie, damals kannte man noch kein ö und kein scharfes ß.«
»Sehr interessant«, knurrte der Kommissar.
»Wir kennen das Lied vom Beppi. Das war einer der letzten Flößer im Kurort. Als der gestorben ist, wollte er das Lied vom
Floezzer Quirin
unbedingt auf dem Grabstein draufstehen haben. Das vollständige!«
»Ja, genau«, pflichtete Ignaz bei. »Mit allen zwanzig Strophen. Weil er doch einer alten Flößerdynastie entstammt. Wir haben ihm den Wunsch erfüllt –«
»Und eine Strophe davon lautet –«
Vom schiffbruch wohl gerettet
und vor dem kalten feucht
sind viele spaeter gluekklich
ins trockene gefleucht,
von manch vermisstem gatten
die gattin nichts vernahm,
er aber lebet fröhlich
dort in der dunklen klamm.
»Das war vielleicht eine Arbeit mit dem Grabstein von Flößer Beppi!«, sagte Ignaz.
»Zwanzig Strophen! Sie können gern rausgehen auf den Friedhof und sich das selber anschauen. Gleich wenn man reinkommt, rechts und dann geradeaus. Da können Sie es selbst lesen.«
»Wenn ich mal Zeit dazu habe, ja«, murrte Jennerwein. »Ich glaube, dass ich jetzt alle Informationen beisammen habe.«
Er gab Ursel und Ignaz die Hand, die sich höflich verabschiedeten.
»Und wenn Sie wieder einmal was brauchen –«
»Auf Wiedersehen!«, sagte Jennerwein mit Nachdruck.
Als die beiden draußen waren, wählte er eine Nummer.
»Becker, ich will Sie sprechen«, raunzte er ins Telefon. Jennerwein war heute gar nicht gut drauf.
Umso besser war das Bestattungsunternehmerehepaar drauf. Noch im Gang des Polizeireviers kniff Ursel ihren Mann in den Arm.
»Das wäre doch eine Gaudi, wenn da was dran wäre an der alten Geschichte.«
»Auf jeden Fall ist das ein ganz gutes Startkapital, das wir uns da aufgebaut haben.«
»Da hast du recht. Der Jennerwein vertraut uns jetzt. Und wir haben was gut bei ihm.«
»Man weiß nie, ob sich so ein Gefallen nicht irgendwann einmal wieder auszahlt.«
Lachend und scherzend verließen sie das Polizeirevier.
»Eine Strophe in dem Lied finde ich ja besonders schaurig:«
Und mancher fragt sich sinnend,
wo Koenig Ludwig weilt
es hat ihn, ja, so sagt man
der schiffbruch auch ereilt.
die floezzer hueten dieses
geheimnis seither gut:
und Quirins sippe hat seitdem
gar Koenigliches blut
»Mit dem König Ludwig – ist da wirklich
unser
König Ludwig gemeint?«
»Ja, freilich. Wer sonst? Zeitlich täte es auch passen: Mitte Juni 1886 ist der König angeblich im Starnberger See ertrunken.«
»In der Zeit hat er aber auch einen Ausflug auf seine Jagdhütte am Schachen gemacht. Und die ist gar nicht so weit von der Höllentalklamm entfernt!«
»Aber der König, der war doch –«
»Was war der?«
»War der nicht schwul? Und ausgerechnet der soll das Blut der Roeschs aufgefrischt haben?«
So scherzte und lachte das Ehepaar Grasegger, bis es nach Hause kam. Morgen war der Wochentag, an dem man beschlossen hatte, keine tierischen Fette zu sich zu nehmen. Drum wurde heute umso mehr aufgetragen. Grainauer Dampfhefelen, überbackene Ochsenschwanzpflanzerln, kalter Hirschbraten, selbstgemachte Bärlauchmayonnaise.
50 .
Krapf hatte schon lange nichts mehr gegessen. Krapf saß – wo sonst – vor dem Computerbildschirm und streckte seine Fühler in die unendlichen Weiten des Netzes aus. In seinem Kopf ratterte und rumorte es, seine Finger flogen über die Tasten. Warum sollte Krapf auch etwas essen – hatte er sich doch in etwas ganz anderes, wesentlich Nahrhafteres festgebissen. Er öffnete ein neues Dokument, ein sauberes neues virtuelles Blatt Papier und schrieb ein paar Stichpunkte auf.
Frauen in süddeutscher Tracht … in einer Höhle eingeschlossen … Reynolds hatte sie da reingespült … Reynolds ließ sie aber nicht mehr raus …
Klar, das war es! Die Schmuckmünzen der Frauen kamen an Reynolds vorbei wie die Schafe an dem Kyklopen
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