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Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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an einer Stelle auf. Langsam und vorsichtig zog er es ab. Er ertastete eine Schwellung rund um seinen Schädel, es waren allerdings keine Operationsnähte zu finden. Er musste warten, bis die Schwellung zurückgegangen war, dann erst konnte er sich sicher sein. Es konnte sich auch um einen harmlosen, geritzten Schnitt mit dem Skalpell handeln, der ihn in dem schrecklichen Glauben wiegen sollte, eine Schädelöffnung, eine Hieronymus-Bosch-mäßige Trepanation hinter sich zu haben. Das traute er dem Weißkittel zu. Dieser verfluchte Kurpfuscher hatte ihm lediglich irgendwelche Horrorstorys erzählt, um ihn in Angst zu versetzen! Psychofolter eben.
    Ich habe mich von meiner angestammten Stelle in der Nähe des Soldatenfriedhofs wegbewegt. Ich habe diese Exkursion gemacht, weil ich wieder die Stimmen gehört habe. Körperlich geht es mit mir aufwärts, aber mein psychischer Gesamtzustand ist bedenklich. (Ich bin kein Fachmann, aber ich denke, ich habe so etwas wie einen posttraumatischen Schock.) Ich bin nervös und unkonzentriert, großen Stimmungsschwankungen ausgesetzt, das alles ist noch zu verkraften – aber die Stimmen machen mich wahnsinnig. Wenn ich sie höre, hält es mich nicht mehr an meinem Platz und ich muss ihnen nachgehen.
    Er hatte sie schon öfter gehört: laute Erwachsenenstimmen, helles Kinderlachen, fröhlicher Gesang von bekannten Volksliedern, scheues Geflüster, wüstes Geschimpfe, erregte Anfeuerungsrufe. Das war normal. In großen Stresssituationen spielt die Phantasie verrückt, das wusste er. Der Wunsch nach Gesellschaft wird so übermächtig, dass sich das Gehirn die Gesellschaft herbeirechnet. Dem Ängstlichen raschelt alles, dem Sucher ist alles Fund. Seine Gegenmaßnahme war körperliche Betätigung. Er machte Liegestütze, Klimmzüge an einer Felsnase, Laufübungen – und sofort verschwanden die Stimmen. Aber sie kamen bald wieder. Er drängte sie wieder zurück, sie kamen erneut. Wie hieß dieser Effekt nochmals? Wenn die Phantasie einen wahnsinnig macht? Irgendein Amerikaner hatte doch diesen Fata Morganas seinen Namen gegeben. Salewski-Effekt oder so ähnlich. Ein Schauspiel, das sich nur im eigenen Gehirn abspielt, und das einen, wenn man nicht aufpasst, ganz von der Realität abkoppelt. Von der Polizei wird dieser Effekt ganz bewusst eingesetzt – deshalb wusste er überhaupt davon.
    Bei Geiselnahmen zum Beispiel. Die Gangster haben die Bank verlassen und sitzen mit den Geiseln im Auto. Sie haben zwei Tage nicht mehr geschlafen, ein direkter Angriff würde zur Katastrophe führen. Die Taktik: Im Hintergrund werden skurrile Szenen inszeniert, die die überreizten Gangster am eigenen Verstand zweifeln lassen. Der Verstand spinnt die skurrilen Szenen weiter, die Gangster werden unaufmerksam – Zugriff.
    Nach ein paar Stunden fühlte er sich kräftig und ausgeruht genug, um noch einen Tauchgang zu wagen. Er musste es versuchen, das war wahrscheinlich seine einzige Chance. Er machte Atemübungen, Dehnübungen, Konzentrationsübungen. Er sprang wiederum an der blubberigen Stelle ins Wasser, hangelte sich an der Felswand entlang nach unten. In fünf Metern Tiefe hatte er das Gefühl, ihm würde es die Lunge zerreißen. Ein starker, kalter Strudel kam ihm von unten entgegen. Hatte er Licht gesehen, als er die Augen kurz öffnete? Es hatte keinen Sinn mehr, weiterzutauchen, er musste wieder nach oben. Vollkommen erschöpft lag er eine Stunde regungslos auf dem Boden. Er musste irgendeine Art von Schnorchel improvisieren, dann wollte er es nochmals versuchen. Morgen vielleicht. Oder am besten heute noch. Die Zeit drängte.
    Wieso ist dort unten Strömung? Ich habe Wasser geschluckt – ich kann mich auch täuschen, aber es hat mineralhaltig geschmeckt, wie kohlensäurehaltiges Sprudelwasser. Vielleicht gibt es da eine Mineralquelle. In diesem Fall habe ich umsonst gehofft. Dann ist das kein Weg nach draußen. Aber irgendwo müssen doch die Fische herkommen! Ich werde es nochmals versuchen.
    Mutlos ließ er den Stift sinken. Und wieder waren sie da, die Stimmen. Er entzündete einen weiteren trockenen Ast, den er als Fackel benutzte, und ging in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren. Er ging an der Felswand entlang, es war genau der Weg, den er vor drei Tagen gekommen war. Die Stimmen wurden lauter. Er hielt seine improvisierte Fackel fest in der Hand. Mit der anderen Hand musste er sich an der Felswand abstützen. Verdammte Halluzinationen! Zehn Meter vor ihm saß eine

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