Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
Vom Netzwerk:
seiner Ohnmacht erwacht, findet er sich in einer dunklen, nassen Höhle wieder. Er kann nichts sehen, er bewegt sich tastend weiter. Er bemerkt, dass sich noch weitere Personen in dieser Höhle befinden. Lauter Leute, die hier schon seit Generationen leben.<
    >Aber wie kann jemand einen Hilferuf nach draußen absenden?<, fragte Krapf.
    >Es würde jetzt zu weit führen, dir einen Siphon oder einen Reynolds-Strudel ausführlich zu erklären. Laienhaft gesprochen ist der Reynolds-Strudel ein Strudel im Strudel. Eine tödliche Einbahnstraße. Zur einen Seite hin (also rein in die Höhle) gehen Körper in einer bestimmten Größe und mit einem bestimmten Gewicht. In die andere Richtung (also raus aus der Höhle) gehen diese Körper nicht mehr. Das schaffen nur kleine Gegenstände.<
    >Wie klein?<
    >Was weiß ich.<
    >Wo gibt es solche Höhlen? <
    >Kanada, Neuseeland, ich müsste mal nachschauen.<
    >Auch bei uns?<
    >Kann sein. Die Höhlen erweitern sich im Lauf der Zeit. Der Fels erodiert und wird weggespült. Der Prozess wird begünstigt, wenn kalkhaltiges Wasser auf Kalkstein trifft.<
    >Und wo findet man das in Europa?<
    >Im Alpenraum.<
    Oliver Krapf lehnte sich zurück. Der Alpenraum war groß. Aber es war eine deutsche Münze. Und ein süddeutsches Gesangbuch.
     
    »Es muss um das Jahr 1820 herum gewesen sein«, fuhr Ignaz fort. »Das war die Gründerzeit des Beerdigungsinstitutes Grasegger. Ich habe die Geschichte so gehört, dass zwei Loisachtaler Flößerburschen mit ihren Frauen auf den Höllentalferner gestiegen sind, um dort oben Sonnwend zu feiern. Es wurde getrunken und getanzt, es waren junge Leute. Am darauffolgenden Morgen haben sie beschlossen, den Hammersbach in einem Floß hinunterzufahren, um rechtzeitig zur Kirche zu kommen.«
    »Das kleine Rinnsal da oben? Das ist doch nicht befahrbar.«
    »Der Oberlauf des Hammersbachs hat damals viel mehr Wasser geführt. Da ist man mit dem Floß schon heruntergekommen. Sie wollten den Weg durch die tosende Höllentalklamm nehmen, das haben sie schon öfters gemacht, um ihren Frauen zu imponieren.«
    »Sie wollen mir einen Bären aufbinden?«
    »Fragen sie alte Einheimische, zum Beispiel den Hartl Peter, der kann Ihnen das auch bestätigen.«
    Ursel schaltete sich ein.
    »Herr Kommissar, der Punkt ist der: Es müssen sich abgeschlossene Höhlen in der Klamm befinden. Wo man reinkommt, aber nicht mehr raus.«
    »Ja freilich«, stimmte ihr Ignaz zu. »Es ist natürlich nur eine Geschichte, aber ein bisserl Wahrheit ist dran, das spür ich im großen Zeh. Nichts ist ganz und gar erfunden.«
    Ignaz nickte.
    »Dass es solche Höhlen gibt, das ist der wahre Kern. Aber die Geschichte geht ja noch weiter – und
da
wird es erst legendenhaft. Das zeigt aber nur, dass der vorige Kern umso wahrer ist.«
    »Die fünf Minuten sind zwar um – aber, nur interessehalber: Wie lautet die Legende?«
    »Naja«, begann Ursel zögerlich. »Die Legende sagt, dass die zwei Flößer mit ihren Frauen in einer dieser Höhlen überlebt haben.«
    »Wie bitte?«
    »Ja, sogar sehr lange. Über Jahre hin. In den Räumen war alles Lebensnotwendige da: Luft, Wasser, Nahrung –«
    »Jetzt hören Sie auf!«, sagte Jennerwein und erhob sich. »Ich habe zu tun.«
    »Man will ja nur helfen«, sagte Ursel Grasegger unschuldig.

48 .
    Dritter Tag. Von den Forellen kann ich mich eigentlich ganz gut ernähren, es sind genügend da. Ich habe ein paar davon gebraten, insofern ist das Kochgeschirr doch nicht ganz witzlos. Die Frage ist: Wie sind diese Fische in die Höhle gelangt? Es muss irgendeine Verbindung nach draußen geben.
    Er machte Liegestütze, er machte Dehnübungen, er schwamm ein paar Runden. Er hatte sich am Ende der tunnelähnlichen Höhle so gut es ging eingerichtet. In einer kleinen Felsnische hatte er sein Feuer entzündet. Ihm war eine Stelle im Wasser aufgefallen, an der in größeren Abständen kleine Blasen an die Oberfläche stiegen. Er wusste, dass es unvernünftig war, aber er konnte schließlich der Versuchung nicht widerstehen, dort hinunter zu tauchen. Er glitt ins Wasser. Nach zwei Körperlängen Tiefe glaubte er einen leichten Sog zu spüren, ein kreiselnden Strudel von unten. Er fühlte sich jedoch nicht fit genug, weiterzutauchen. Aber es war ein Hoffnungsschimmer – der erste seit Tagen. Er befühlte seine Glatze. Die Haare waren schon wieder etwas nachgewachsen, sie hatten jetzt die Länge seines Bartes. Er holte sein Schweizer Armeemesser heraus und schnitt das Pflaster

Weitere Kostenlose Bücher