Obsession
«Und was ist mit Ihnen? Machen Sie
tatsächlich Fotos, oder benutzen Sie Kameras nur als Angriffswaffen?»
Er grinste verlegen. «Nur wenn ich provoziert werde. Wenn ich nicht mit Kameras auf die Leute losgehe, mache ich Modeaufnahmen
für Magazine oder Werbeagenturen.»
«Klingt glamourös.»
«Ungefähr so glamourös wie das Musikgeschäft.» Er fasste an sein geschwollenes Auge, und beide lachten. Als das Taxi vor ihrer
Wohnung hielt, konnte er kaum glauben, dass die Fahrt so schnell vergangen war. Während sie ausstieg, fühlte er ein Bedürfnis
in sich aufsteigen, das er zum letzten Mal als Teenager gespürt hatte.
«Warten Sie», sagte er schnell. «Falls Sie diese Woche noch nichts vorhaben, könnten wir doch mal etwas trinken gehen, oder?»
Sie beugte sich mit einem Lächeln durch die geöffnete Tür. «Ich kann wirklich nicht. Es war schon schwer genug, für heute
Abend einen Babysitter zu finden. Aber nett, dass Sie gefragt haben.»
Belass es dabei. Bring dich nicht in Schwierigkeiten, sie
hat ein Kind.
Sie richtete sich auf und wollte die Tür schließen. |31| «Wie wäre es mit einem gemeinsamen Mittagessen?», fragte er.
Sie schaute ihn an. Ihr Lächeln war etwas spöttisch geworden, so als würde das genauso wenig ihren Erwartungen entsprechen.
«Rufen Sie mich auf der Arbeit an», sagte sie.
Zwei Jahre danach waren sie verheiratet. Und zwei weitere Jahre später platzte eine Ader in ihrem Kopf und tötete sie.
Ben hatte einen Arm um Jacob gelegt, als sie beide auf dem Sofa saßen und sich
Der König der Löwen
auf Video anschauten. Es war einer von Jacobs Lieblingsfilmen, was bei ihm bedeutete, dass er ihn ohne Unterbrechung mehrere
Male hintereinander bis zum Ende ansehen konnte. Mit vier Jahren hatte er gelernt, wie man den Videorecorder bediente, er
hatte sich allerdings nie darum gekümmert, die Kassette zurückzuspulen, wenn sie halb abgespielt war. Er stieg einfach an
der Stelle wieder ein, wo sich das Band gerade befand. Für Geschichten interessierte er sich nicht, er war nur von den Bildern
gebannt.
Nun gähnte er, während er den Zeichentrickfilm ansah. Ben wusste, dass er ihn eigentlich zu Bett bringen sollte. Sie hatten
einen klaren Zeitablauf entwickelt: Wenn Jacob von der Schule nach Hause kam, wusch er sich die Hände, schaute eine halbe
Stunde das Kinderprogramm im Fernsehen, aß zu Abend, spielte noch eine Weile oder schaute gemeinsam mit ihnen Fernsehen, badete
dann und ging zu Bett. Solche Routinen bedeuteten für Jacob Sicherheit und Geborgenheit, und jede Abweichung konnte ihn durcheinanderbringen.
Ben hatte ihm bereits geholfen, einen rudimentären Wagen aus Lego-Steinen zu bauen, und nun näherten |32| sie sich seiner Badezeit. Da es Jacob jedoch nicht aufzufallen schien, hatte Ben keine Lust, ihn schon jetzt ins Bett zu bringen.
Er brauchte den körperlichen Kontakt genauso wie der Junge. Vielleicht sogar mehr als er.
Jeden Abend hatte das Telefon geklingelt, weil alle möglichen Leute wissen wollten, wie es ihm ging. Ihre Sorge hatte ihn
gerührt, aber er war froh, als die Anrufe schließlich aufhörten. Die meisten «ihrer» Freunde waren eigentlich Sarahs Freunde,
Eltern von Kindern, die entweder auf Jacobs Schule gingen oder die sie durch Kontaktgruppen für Autisten kennengelernt hatte.
Ben hatte nicht das Gefühl, viel mit ihnen gemeinsam zu haben, und die Gespräche hatten ihm nur noch bewusster gemacht, dass
Sarah nicht mehr da war. Nur noch Jacob.
Und Jacob konnte er nicht mehr anschauen, ohne an die Zeitungsausschnitte zu denken.
Als Keith angerufen hatte, hatte er ihm davon erzählen wollen, es dann aber doch nicht getan. Zuerst musste er darüber nachdenken
und sich vergewissern, dass er nicht paranoid wurde. In einem Moment war er vom Schlimmsten überzeugt, im nächsten sicher,
dass es eine nüchterne Erklärung gab. Manchmal fegte die Überzeugung, dass die ganze Sache lächerlich war, jeglichen Verdacht
hinweg wie eine Frühlingsböe. Denn er hatte ja Fotos von der schwangeren Sarah gesehen und mit ihren Eltern über die Geburt
ihres Enkels gesprochen. Er wusste, dass sie damals mit einem Arschloch namens Miles ausging, der sie sitzenließ, als sie
schwanger wurde (bei dem Gedanken kam jedes Mal eine von Eifersucht durchsetzte Wut in ihm auf), und dass sie danach zu ihrer
Freundin Jessica gezogen war. Ben hatte sie Jessica die Schreckliche getauft, weil sie das seiner Meinung nach war, obwohl
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